Im Zuge der Kritik an den wirtschaftlichen und politischen Gründen für die Klimakrise hat auch die Kapitalismuskritik neue Gewichtung und Wichtigkeit erfahren. Es könne etwas nicht stimmen mit einem globalen System, so die weltweit eher wachsende Einsicht, in dem Profit mehr zählt als die Erhaltung des Planeten, auf dem dieser Gewinn erzielt wurde – und in dem er mehr wert ist als das Leben jener Tätigen, die zwar in der Regel dafür schuften aber kaum etwas davon abbekommen. Wer "Make The World Greta Again" sagt, meint sicher auch, dass es so nicht weitergehen darf. Gut. Es ist schließlich eine Binsenweisheit, dass der finanzielle Reichtum auf viel zu wenige verteilt ist während viel zu viele in Armut leben. Eine Wahrheit, mit der man sich längst arrangiert zu haben schien, obwohl sie auf Kosten der Menschheit und der Natur und Umwelt geht. Aber es bleibt umso wichtiger, die Kapitalismuskritik nicht rechtsradikalen Populisten zu überlassen, die jedes Problem mit Rassismus und Nationalismus verknüpfen.
2013 erschien "Das Kapital im 21. Jahrhundert" des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Das Sachbuch entwickelte sich in kürzester Zeit zum Weltbestseller, allein in Deutschland wurden mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Piketty wollte kein Update von Karl Marx' "Das Kapital" schreiben, jener bahnbrechenden aber unvollendeten Analyse der Funktionsweise des Systems, die auch politisch Einfluss gewann. Eine Lektüre, die vielen heute noch als aufschlussreich gilt, obwohl sie in einer speziellen Phase der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert entstanden ist. In seinem Buch widmet sich Piketty der Marxschen Lehre zumindest kurz, so wie er auch andere Forscher des Kapitalismus streift, etwa den prominenten Befürworter Adam Smith. Aus der Weltgeschichte und in Ansätzen aus dem politischen Tagesgeschäft wissen wir schon, dass ein System, das Ungleichheit fördert, seine Analysten zu ungleichen Schlussfolgerungen kommen lassen muss. Berühmt ist die Marxsche Behauptung, das Proletariat werde sich zwangläufig gegen die Bourgeoisie auflehnen und dem Kapitalismus ein Ende bereiten. Auch Piketty ist für ein Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Er sieht jedoch keine Massen am Werk, die ihr historisches Schicksal erfüllen. Der Wirtschaftswissenschaftler schlägt ein paar pragmatische politische Mittel vor, um Ungleichheit in den Griff zu bekommen.
Überzeugungsarbeit in Amerika
Ungleichheit ist auch der zentrale Begriff in Justin Pembertons Dokumentarfilm Das Kapital im 21. Jahrhundert. Darin erklärt Piketty neben einigen weiteren anerkannten Superbrains wie Faiza Shaheen, Gillian Tett und Joseph Stiglitz seine Thesen. Um den Status Quo zu verstehen, müssen wir allerdings historisch abgeholt werden. So geht es an den Konjunkturen der Ungleichheit entlang – in der Ständegesellschaft vor der französischen Revolution herrschte eine ähnlich ungerechte Verteilung des Vermögens wie mittlerweile wieder im hochentwickelten Kapitalismus – rund um alle weltbewegenden Themen. Die Ausbeutung der Arbeit, die technologische Entwicklung, die Folgen der Weltkriege, die Zerstörung der Umwelt, der Zusammenbruch der Börsen, der Sündenfall der Steueroasen, die Logik des Erbens, die Ohnmacht der politischen Klassen, die russische Revolution, der chinesische Weg, künstliche Intelligenz. Und darum, wie es sein kann, dass eine so anfällige und unausgewogene Struktur wie die des Kapitalismus/ Neoliberalismus sich zur zweiten Natur entwickeln konnte.
Mit Lordes "Royals" zieht uns der Regisseur in eine faszinierend rasante Abbildung der Verhältnisse und ihrer geschichtlichen Ursachen hinein. Neben popkulturellen Verweisen und den bereits erwähnten Expertenmeinungen sowie hochinteressantem Footage – ein Google-Manager, der vorm Untersuchungsausschuss die Maske fallen lässt oder Margaret Thatcher noch vor ihrem Amtsantritt, der in Großbritannien die Ära der Privatisierungen und der Entwertungen der Gewerkschaften einläutete –, liefern Pembertons kurzweilige 100 Lehrminuten auch das ein oder andere prägnante Bild. Man kennt ja den Spruch sämtlicher Optimisten der freien wenn nicht gar entfesselten Märkte: Jede/r ist seines/ihres eigenen Glückes Schmied. Ein Experiment mit dem Monopoly-Spiel belegt jedoch, dass von Anfang an bevorteilte Spieler*innen letztlich nie zugeben, nur auf Grund der ungerechten Ausgangssituation gewonnen zu haben. Dass man sich das Glück erarbeitet, bleibt unumstößliche kapitalistische Wahrheit, auch wenn es gar nicht der Wirklichkeit entspricht. Insofern erscheint es nicht falsch, wie einst Karl Marx von einem kapitalistischen Spuk zu reden. Oder in Abwandlung des Kommunistischen Manifests festzustellen: Ein Gespenst geht um in der Welt – der Kapitalismus. Bestseller-Autor Thomas Piketty und Filmemacher Justin Pemberton haben es ordentlich mit Mehl bestäubt, um es in seinen vielen Details und seiner ganzen Statur sichtbar zu machen. Aber die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus ist eine Arbeit, die nicht endet, bis er selber aufhört zu existieren. Sehr spannend zu beobachten und durchaus aufmunternd, dass Menschen wie diese beiden, die eher keine blutrünstigen Radikalen sind, heute noch an revolutionäre Veränderungen glauben.
Und zwar an solche, die allen Menschen zugute kommen sollen.
WF