Als Police Sergeant Neil Howie (Edward Woodward) am 29. Mai 1973 mit dem Wasserflugzeug vor der Küste der abgelegenen Trauminsel anlegt, ahnt er noch nicht, wie sehr seine strengreligiösen Grundsätze in den kommenden Tagen auf die Probe gestellt werden. Nicht nur trifft seine Suche nach der angeblich vermissten Rowan Morrison seitens der Bewohner auf wenig bis keine Mithilfe, auch seine ungefragten Christianisierungsversuche treffen eher auf spöttisches Gelächter.
Auf Summerisle herrscht ohnehin seit mehr als drei Generationen eine gänzlich andere theologische Strömung. Der Fruchtbarkeitskult, der von der Familie des Gemeindevorstands Lord Summerisle (gespielt vom legendären Christopher Lee) eingeführt wurde, setzt vor allem auf keltische Rituale, um Jahr für Jahr eine erfolgreiche Ernte zu garantieren. Einige dieser vielleicht etwas zu lebensbejahenden Methoden möchten wir euch heute vorstellen, aber Vorsicht sei geboten, denn die Partytraditionen der Summerisle Religion sind nichts für schwache Nerven!
Ein besonders persönlichkeitsprägender Moment im Leben vieler Menschen, der ohnehin oft von völlig falschen Erwartungen und psychischen Druck begleitet wird, erhält von den Bewohnern Summerisles eine sehr gemeinschaftliche Facette. Die jungen Männer der Insel, die kurz davor stehen in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden, müssen gar nicht erst auf „die Richtige“ warten und werden für den Vollzug des ersten Liebesspiels direkt an die Tochter des Gastwirts weitergeleitet. Willow MacGreagor (Bond-Girl Britt Ekland) wird aufgrund ihrer sexuellen Fähigkeiten sogar von Lord Summerisle mit Aphrodite höchstselbst verglichen.
Doch die Zeremonie endet nicht an der Bettkante, sondern zieht sich durch das gesamte Gasthaus. Während die ersten rauen Klänge des Geschehens die Wände überbrücken, beginnt im Untergeschoss die rhythmische Begleitung. Der Song „Gently Johnny“ untermalt mit nicht zwingend lyrischen aber durchaus passenden Formulierungen den Eintritt eines neuen Mitglieds in den Fruchtbarkeitskreislauf des abgeschotteten Biotops.
Die verführerische Willow kann schon so manchem jungen (und alten) Mann den Kopf verdrehen. © 1974 STUDIOCANAL FILMS Ltd.
Erste Erwähnungen des Maibaums reichen mehrere hundert Jahre zurück, dennoch ist man sich in Fachkreisen auch heute noch uneinig, welche Bedeutung dem bunt-dekorierten Gewächs ursprünglich beigemessen wurde. Die Bewohner von Summerisle interpretieren ihn jedoch ganz klar als Sinnbild für die Fortpflanzungskraft der Natur. Selbst den jüngsten Kultmitgliedern wird die phallus-ähnliche Symbolik des Baums im Rahmen des Religionsunterrichtes ins Gedächtnis eingebrannt. Das traditionsreiche Aufstellen und Schmücken des Baumes, das nach wie vor in weiten Teilen des ländlichen Mitteleuropas Anwendung findet, wird hier von einer tatenfreudigen Schulklasse übernommen. Um die Wichtigkeit der Verbindung Mensch und Umwelt zu verdeutlichen, lernen sie von ihrem Lehrer ein eingängiges Kinderlied. Die ohrwurm-auslösenden Lyrics dürfte man so schnell wohl nicht mehr aus seinem Kopf verbannen können:
In the woods there grew a tree
And a fine, fine tree was he
On that tree, there was a limb
On that limb, there was a branch
On that branch, there was a nest
In that nest, there was an egg
In that egg, there was a bird
From that bird, a feather came
Of that feather was a bed
On that bed there was a girl
On that girl, there was a man
From that man, there was a seed
From that seed, there was a boy
From that boy, there was a man
For that man, there was a grave
From that grave there grew
A tree
Religionsunterricht mal anders: Das besungene Schmücken des Maibaumes scheint den Schülern viel Spaß zu bereiten. © 1974 STUDIOCANAL FILMS Ltd.
So sehr man die natürlichen Abläufe auch fördern möchte, ist ein gelegentliches „spirituelles Eingreifen“ nach Ansicht der Inselbewohner unabwendbar, um die reichen Erträge der Flora und Fauna auch in diesem Herbst genießen zu können. Was der männliche Teil des Fortpflanzungsprozesses nicht leisten kann wird also in göttliche Hände gelegt, genauer gesagt in jene des Feuergottes. Die noch kinderlosen jungen Frauen der Gemeinde treffen sich, natürlich umgeben von phallus-förmigen Gesteinen, an einer Feuerstelle, entkleiden sich gänzlich (rein aus Brandschutzgründen, wie der von Chauvinismus unberührte Lord Summerisle betont) und springen der Reihe nach über die lodernden Flammen. Ob die Parthenogenese, oder im Volksmund auch „unbefleckte Befruchtung“ genannt, tatsächlich schon einmal von Erfolg geprägt war und auf Summerisle echte Halbgötter unter den Einwohnern wandeln, lässt der Film jedoch offen.
Zwischen Hexerei und Religion liegt manchmal eine schmale Trennlinie, die auf Summerisle des Öfteren verschwimmt. © 1974 STUDIOCANAL FILMS Ltd.
Mit dem Morgen des ersten Mais beginnt für die Angehörigen des Fruchtbarkeitskults ein aufwendiger Kostümball. Hasenmasken und Fischkostüme ehren die Bewohner, die nicht selbst an den Feierlichkeiten teilnehmen können, der berüchtigte Maibaum wird mit einem Kranz an der Spitze gekrönt und ein Marsch durch die gesamte Ortschaft wird durch Trommeln und Säbelrasseln angekündigt. An der Spitze der tanzenden Prozession befinden sich einige illustre Figuren: ein Steckenpferd, halb Tier und halb Mensch, ein Mannweib, als heimtückische Versuchung und der Narr, König für einen Tag. Je nachdem wie die Ernte im Vorjahr verlief, werden jedoch sechs begabte Schwertträger zu den wichtigsten Akteuren. Dort wo zuvor noch altertümliche Hexerei im Rahmen des Feuertanzes praktiziert wurde, steht nun die Vollstreckung eines mittelalterlichen Todesurteils bevor. Die sechs jungen Männer ragen ihre Waffen in die Luft und senken sie anschließend in überkreuzter Stellung als Abbild der Sonne nieder. Jeder volljährige Einwohner muss sich nun der Mutprobe stellen, seinen oder ihren Kopf zwischen die scharfen Kanten der Säbel zu platzieren und auf die Gnade der Götter zu hoffen.
Die sehr realitätsnahen Masken verleihen der Mai-Parade eine mitunter gespenstische Note. © 1974 STUDIOCANAL FILMS Ltd.
Wem die drohende Köpfung durch die Klinge nicht spektakulär genug ist, der kommt eventuell mit einer etwas pompöseren Liebesbotschaft an den Sonnengott auf seine Kosten.
Wie Lord Summerisle in all seiner manischen Weisheit erklärt:
„Tieropfer sind gut, aber sie werden nicht immer angenommen. Ein kleines Kind wäre besser, aber nicht annähernd so effektiv wie ein geeigneter Erwachsener.“
Wer auch immer diese angesteinflößende Opferbeschreibung erfüllen mag, sieht sich mit einem äußerst eindrucksvollen und äußerst schmerzhaften Tod konfrontiert. Denn anders als beim heute durchaus gängigen „Burning Man“ steckt im Korpus des meterhohen „Wicker Man“ tatsächlich eine arme Menschenseele. Singend und tanzend frohlocken also Summerisles fanatische-geblendete Bürger als die Flammen sich langsam ihren Weg an der Statue heraufbahnen und der Glaube an eine bessere landwirtschaftliche Ausbeute zurückkehrt. Der tragische Schicksalsschlag, als brennendes Erntetribut in Gesellschaft von Nutzvieh und umgeben von Sektenmitgliedern das Zeitliche zu segnen, markiert letztlich auch das große Finale der Mai-Feier. Hoffen wir das die Naturgötter befriedigt werden konnten und in den Jahren darauf nicht noch drastischere Maßnahmen ergriffen wurden.
Majestätisch und verstörend zugleich: Der Wicker Man © 1974 STUDIOCANAL FILMS Ltd.
Haben euch diese eher unkonventionellen Riten neugierig macht? Dann seht bitte dennoch davon ab sie in eure persönlichen Feiertagsabläufe zu integrieren und schaut stattdessen The Wicker Man mit genügend Sicherheitsabstand auf dem Sofa. Fündig werdet ihr digital bei Arthaus+, verfügbar als Amazon Channel und in der Apple TV App, und physisch bei der Special Edition Blu-ray Disc im neuen Design und mit passendem Poster.