Wir alle sind in irgendetwas gefangen – in festen Überzeugungen oder in gesellschaftlichen Zwängen. Manchmal werden aus den sozialen Zwängen persönliche Zwangshandlungen und aus den Überzeugungen vieler ergibt sich ein Weltbild, bei dem man nicht mehr weiß, was zuerst da war: die Henne oder das Ei. Man fragt sich: Ist die Welt verrückt oder ich? Bin ich der einzige Normale oder sind alle anderen normal? Ergebe ich mich meinen Spleens oder versuche ich mich an einer gewissen Salonfähigkeit? Mariana Lekys Roman »Was man von hier aus sehen kann« und seine Verfilmung wimmeln von unterschwelligen Fragen wie diesen. Der Film von Aron Lehmann spielt in einem Dorf im Westerwald. In diesem provinziellen Idyll der Sorte Überall und Nirgendwo leben Figuren, wie das Leben sie schreibt. Menschen mit gebrochen Biografien und Herzen. Selma ist sogar mal buchstäblich eingebrochen, als die Bretter des Holzbodens unter ihren Füßen nachgaben. Dabei schaffte sie es, die Ente, die sie gerade servieren wollte, nicht fallen zu lassen. Die anwesenden Männer reparierten den Boden nach dem Essen mehr schlecht als recht. Damit kein neues Unglück an derselben Stelle geschehe, wurde diese mit einem roten Kreis markiert. Jener wunde Punkt ist, metaphorischer Teufelskreis, das spirituelle Zentrum der Geschichte. Nur ganz nebenbei sei erwähnt, dass Selma fortan öfter mal von Okapis träumt – also den real existierenden Fabelwesen, die aussehen, als hätte man sie aus mehreren anderen Tieren wie etwa Zebra, Giraffe und Maus zusammengesetzt. Und nach jedem dieser Träume verstirbt am nächsten Tag ein/e Dorfbewohner:in. Natürlich versetzt die Bekanntgabe eines solchen Traums die Dorfgemeinschaft in helle Aufregung.
Selma und ihre Träume © Studiocanal GmbH/ Frank Dicks
Die wahre Hauptfigur dieses märchenhaften Szenarios, das einem mitunter erscheint, als habe David Lynch sich intensiv mit skandinavischer Skurrilität beschäftigt und dann an eine weniger sinistre, eher gewitzte Version von Twin Peaks, ohne FBI, dafür mit mehr Zärtlichkeit auch in den bösen Momenten gemacht –, ist Selmas Enkelin Luise. Auf verschiedenen Zeitebenen sucht sie nach einem Ausweg aus ihrer Lage, in der alles vorbestimmt scheint. Eine Art Sackgasse, wo neben den übersinnlichen Erscheinungen, die es durchaus gibt, wenig Sinnlichkeit vorherrscht. Da muss erst ihr wuscheliger Hunde Alaska fortlaufen, damit Luise die Liebe ihres Lebens findet – einen heimlich Schokoriegel und unheimlich viel Hackbraten verzehrenden Buddhisten, der auch der Spezialität des lokalen Eismanns, einem Griechen, der sich als waschechter Italiener ausgibt, nicht abgeneigt ist. Aber nach drei Portionen »Brennendes Verlangen mit Sahne« ist auch Frederik pappsatt. Das Schöne ist, dass alle Figuren am Ende über den Tellerrand hinausschauen dürfen. Der verliebte Optiker ebenso wie der trunksüchtige Palm und die depressive Marlies. Wir ahnen, was geschieht, wenn Selma das letzte Mal von einem Okapi träumt. Aber wir lernen zugleich, dass nicht alles im Leben vorhersehbar ist – und man sich dem so genannten Schicksal nicht einfach ergeben muss. Dass wir dabei dieses wunderbare Ensemble um Corinna Harfouch, Luna Wedler, Ava Petsch, Karl Markovics, Benjamin Radjaipour und Rosalie Thomass erleben dürfen, macht Was man von hier aus sehen kann umso fesselnder. Davon lässt man sich gern gefangen nehmen.
WF