Grüne Tomaten ist ein Film voller Lieblingsszenen. Ein Klassiker für den Sonntag auf dem Sofa, wobei "Sonntag" auch jeder andere Wochentag sein darf, an dem man Lust auf einen echten Sonntagsfilm hat. Und statt des Sofas tut es auch das Mobiliar eines Kinosaals – etwa wenn das Meisterwerk von Regisseur Jon Avnet nach Fannie Flaggs gleichnamigen Roman am 5. April 2022 in der Reihe Best Of Cinema auf der großen Leinwand zu sehen ist.
Zur Einstimmung lassen wir die Top 3 unserer Lieblingsstellen Revue passieren:
1.) Die Küchenschlacht zwischen Idgie Threadgoode und Ruth Jamison, wunderbar gespielt von Mary Stuart Masterson und Mary-Louise Parker.
2.) Die Towanda-Parkplatz-Action mit Evelyn Couch, eine Figur, die durch Kathy Bates großartige Performance im kollektiven Grüne Tomaten-Fan-Gedächtnis unsterblich wurde.
Und auf dem dritten Platz die Szene, in der Ruth vor Gericht ihre Liebe zu Idgie gesteht, dicht gefolgt vom herausgerufenen Urteil des Richters, das für Idgie und Big George im Mordprozess einem Freispruch gleichkommt. Und auch wenn Reverend Scroggins dafür vor Gericht lügen musste (weshalb er bewusst seine "eigene Bibel" mitbrachte, auf die er den Eid schwor und die sich im Nachhinein als Ausgabe von "Moby Dick" herausstellt), so werden Idgie und Big George dennoch zurecht nicht bestraft. Zum einen, weil der Rassist und Frauenschläger Frank Bennett es kaum anders verdient hatte, als vorzeitig das Zeitliche zu segnen, zum anderen weil die beiden wirklich nicht dafür verantwortlich waren. Aber die Wahrheit über den Mord erfahren wir erst zum Schluss – sie soll hier nicht verraten werden.
Ihre Liebe ist eine ernste Sache: Ruth und Idgie © Studiocanal
Eine Tatsache, die uns die Bilder und die Art und Weise, wie sie zu einer Geschichte verknüpft sind, allerdings eher verraten als nur andeuten: Grüne Tomaten ist ein Liebesfilm. Das Liebespaar sind Idgie und Ruth, auch wenn es außer einem flüchtigem Kuss auf die Wange und der besagten Essensschlacht kaum körperliche Berührungen gibt. Kurz vor Ruth’ Hochzeit mit Frank Bennett aber erleben die beiden, deren Bekanntschaft im Film so schicksalhaft schwer mit dem Tod von Idgies Bruder Buddy beginnt, den schönsten Tag bis dahin überhaupt. Dieser endet mit einem Stelldichein am See, das vom Schnitt abrupt beendet wird. Der Rest ist der Fantasie der Zuschauer*innen überlassen, die ihre Vorstellungskraft jedoch nicht allzu sehr bemühen müssen, um zu verstehen, das mehr hinter der Freundschaft steckt. Die Gefühle der Frauen sprechen für sich, bevor sie sie aussprechen. Dank der Art, wie hier erzählt und gespielt wird, mehr als zwei Stunden lang, während das Publikum die Zeit komplett vergisst.
So gesehen gelingt in Grüne Tomaten das Kunststück, die Historie der Gesellschaft – der amerikanischen Südstaaten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – mit den Lebensgeschichten von erfundenen Menschen, die so gut wie echt sind, auf deutliche und gleichzeitig subtile Weise zu verknüpfen. Man kann es als tragische Note deuten, dass die lesbische Liebe zwischen Idgie und Ruth nicht klarer gezeigt wurde in Hollywoods Traumfabrik, die das an Herz und Verstand rührende Drama 1991 hervorbrachte; man darf sich auch 30 Jahre später noch verwundert die Augen reiben, dass das Meisterwerk ebendort nicht mit einem Dutzend Oscars ausgezeichnet worden ist. Aber man muss Filmteam und Ensemble loben für eine Inszenierung, die klarmacht, dass Liebe (mehr als) eine gute Geschichte ist. Buddy, dessen Geschichten wirklich wunderbar waren, lebt in Buch und Film leider nicht lange genug, um dies zu erfahren. Aber ein Leben und eine gemeinsame Geschichte, wie sie Idgie und Ruth untrennbar verbinden? Fraglich, ob ihm dieses Glück zuteil geworden wäre. Auch davon handelt Grüne Tomaten, der für heutige Maßstäbe einigermaßen zeitgemäß feministisches Empowerment thematisiert: Man kann dem Leben viele Fragen stellen und vermag ihm manche Antwort abzutrotzen, doch am Ende bleiben stets ein paar Geheimnisse. Dass die Suche danach wiederum ein erfülltes Leben ausmacht, gibt als universelle Wahrheit obendrauf, wie die spezielle Barbecue-Soße. Und drumherum, wie gesagt, eine Lieblingsszene nach der anderen … Haben wir etwa eben vergessen, die wundervolle Szene zu nennen, in der Idgie die Bienen betört, um für Ruth ein Glas Honig zu stehlen? Ein schöneres Bild für Verliebtsein kann man sich eigentlich kaum denken.
WF