Es ist auf perfide Weise passend, dass wir den gerade "digital remastered" erschienenen Film Spurlos verschwunden aus dem Jahr 1988 ausgerechnet in der Rubrik "Kennen Sie den schon?" vorstellen. Denn irgendwie funktioniert dieser Film wie ein böser Witz, den man so einleiten könnte. Einer von denen, die eigentlich eher fies als witzig sind. Bei denen man erst einmal schockiert auflacht und sich dann in Grund und Boden schämt. Weil das Erzählte eben nicht witzig, sondern brutal und böse ist – man aber irgendwie an einen Witz denken muss, weil die Auflösung wie eine Schlusspointe funktioniert.
Spurlos verschwunden endet mit so einem Schockmoment, den wir hier natürlich nicht im Detail spoilern werden. Und dass wir ihn überhaupt so prominent erwähnen, liegt daran, dass schon die Kolleg*innen, die den Klappentext geschrieben haben, ein "nervenaufreibendes Finale" ankündigen, "das seine Zuschauer lange über den Abspann hinaus heimsucht." Klingt reißerisch, zugegeben, aber geht klar, denn dieses Ende spielt ungefähr in der Liga eines Fight Club- oder The Sixth Sense-Twists. Und es hat den Autor dieser Zeilen tatsächlich noch eine Weile heimgesucht – was aber auch ein persönliches Problem sein könnte, da Regisseur George Sluizer dort eine Urangst des Autors ausfilmt.
Da war die Welt von Saskia (Johanna ter Steege) und Rex (Gene Bervoets) noch in Ordnung ... © Kinowelt GmbH
Aber Ängste sind ein gutes Stichwort. Spurlos verschwunden, nach dem Roman des niederländischen Autoren Tim Krabbé, ist nicht zuletzt deshalb so eindringlich, weil der Film mit Ängsten und Situationen spielt, die viele kennen. Standen Sie nicht auch schon mal im Urlaub mit der oder dem Liebsten an einer Tankstelle und wunderten sich, warum er oder sie noch nicht aus dem Shop oder von der Toilette zurückgekehrt ist? Wie schnell man sich da Sorgen macht! Und sich fragt: Liegt’s an der Verdauung? An der Schlange vorm Klo? An der Unfähigkeit, sich für das richtige Getränk zu entscheiden? Oder ist was passiert? Ein Kreislaufzusammenbruch? Und was ist mit dem Typ, der vorhin so seltsam schaute, als man auf dem Parkplatz aus dem Auto stieg? Oder ist man noch sauer, wegen dem kleinen Streit vorhin am Tunnel?
Genau das ist die Grundsituation von Spurlos verschwunden. Rex (Gene Bervoets) und Saskia (Johanna ter Steege) sind auf dem Weg in den Urlaub in Frankreich und stoppen an einer Autobahnraststätte in der Nähe von Nîmes. Sie haben sich zuvor gestritten, auf dem Parkplatz wieder vertragen, ein wenig rumgeturtelt – und nun will Saskia nur noch eben was zu trinken holen. Und kommt nicht wieder. Rex fragt nervös in der Tankstelle nach, ruft die Polizei, glaubt auf einem zuvor beim Turteln geschossenen Polaroid-Foto eine verdächtige Person zu sehen. Aber es hilft alles nicht. Sie ist und bleibt Spurlos verschwunden.
Familienvater und Soziopath Raymond Lemorne (Bernard-Pierre Donnadieu) mit einer seiner Töchter. © Kinowelt GmbH
George Sluizer zeigt diese Szenen mit kühler Präzision und viel Geduld für die sich langsam steigernde Panik. Und bricht dann zum ersten Mal die Erwartungen an einen Thriller, indem er kein "Whodunnit" draus macht, sondern mit dem gleichen ruhigen Blick zeigt, wer der Täter ist. In Rückblenden erfahren wir fortan, wie der Familienvater Raymond Lemorne (Bernard-Pierre Donnadieu), der sich später selbst als Soziopath diagnostizieren wird (und sich gut mit Hannibal Lecter und Ben aus Mann beißt Hund verstehen würde), nüchtern und neugierig seinem Vorhaben näher kommt, eine Frau zu entführen. Lemorne mietet sich dafür ein Haus in Frankreich, er lernt Englisch, um Touristinnen anzusprechen, testet die Wirkung von Chloroform im Selbstversuch, übt den perfekten Handgriff, wie man unauffällig, im Auto sitzend die Person auf dem Beifahrersitz betäuben kann – und erfährt bei seinen erst creepy wirkenden Annäherungen, dass Übung eben den Meister macht. Dazwischen gibt es Familienszenen, die geradezu idyllisch wirken. Die zeigen, wie sehr ihn seine beiden Töchter vergöttern – auch wenn Lemornes Frau hin und wieder misstrauisch wirkt. Sich fragt, warum er das Haus in Frankreich gekauft hat. Ob er dort eine Affäre hat? Dass ihr Gatte all die Zeit an einer perfiden Versuchsanordnung werkelt und jeden neuen Schritt mit kalter Neugier voran schreitet, obwohl er die Grenzen der Moral schon längst hinter sich gelassen hat – das kann sich Madame Lemorne natürlich nicht ausmalen.
Sieht so etwa ein idyllischer Liebes-Road-Trip nach Frankreich aus? © Kinowelt GmbH
Rex steigert sich derweil hinein in die Suche nach Saskia – startet Plakatkampagnen, sitzt in Talkshows und sinniert vor laufenden Kameras über die Frage, was Saskias Traum wohl bedeuten mag, von dem sie ihm am Tag ihres Verschwindens erzählte: Ein Traum, in dem sie – und auch Rex – jeder für sich in einem goldenen Ei durch das schwarze Nichts des Weltalls trieben. Man fühlt dabei die Unruhe, die Verzweiflung, den Fanatismus von Rex, endlich Antworten zu finden, die ihm schließlich Lemorne selbst anbietet – wenn Rex ihn dafür auf eine Reise nach Frankreich begleitet, an die Orte, an denen das Drama begann. Man fiebert dabei mit. Aber nicht, weil einem Rex irgendwie sympathisch ist, sondern weil Johanna ter Steege ihre limitierte Spielzeit dermaßen wundervoll ausgefüllt hat, dass man sich nachhaltig in sie verknallt hat – und wie Rex die vermutlich irrationale Hoffnung hegt, Saskia tauche am Ende des Films quicklebendig am anderen Ende der Welt auf – oder so ähnlich. Johanna ter Steege und Bernard-Pierre Donnadieu als Raymond Dermone spielen dabei so großartig, dass George Sluizers Remake für das US-Kino (The Vanishing aus dem Jahr 1993) mit Sandra Bullock und Jeff Bridges eher lame wirkt.
Schon die Buchvorlage von Tim Krabbé war eine Überraschung für viele Kritiker, weil Krabbé, der seinen Drang zum blumigen Erzählen mehrfach bewiesen hat, in "Das goldene Ei" auf eine knappe, harte Sprache setzt, die dem Denken und Handeln "seines" Soziopathen sehr nahe steht. George Sluizers Übersetzung in die entsprechende Filmsprache und sein Ensemble sorgen dafür, dass diese böse, böse Geschichte als Film noch mehr Wucht entwickelt – und sich tatsächlich nachhaltig in die Erinnerung frisst. Hier kann man dem Klappentext also ruhig mal glauben und die Warnung mit der "Heimsuchung" ernst nehmen.
DK