Im Alter von 50 Jahren erklärte der 1943 in Greater Manchester geborene Filmemacher Mike Leigh, dass er in seinen Filmen keine Antworten parat habe – im moralischen Sinne. Mit seinem Werk – ein repräsentativer Ausschnitt liegt nun in der Mike Leigh Edition von ARTHAUS vor – gehe es ihm darum, das Publikum selbst zum Nachdenken anzuregen. Nachvollziehbar, denn letztlich sind für Urteile die Gerichte zuständig, nicht die Künstler*innen. Und in zweiter Instanz, zumindest was die Kunst angeht, sind die Rezipienten am Zug. Mike Leigh verweist in seinen Geschichten auch nicht auf himmlische Mächte, die Absolution erteilen oder den Einzelnen strafen, dafür ist er als Vertreter des New British Cinema dem Realismus viel zu sehr verbunden. Es muss irdische Lösungen geben, zwar nicht für alle Filmfiguren, das lassen die Verhältnisse wohl nicht zu, aber den kleinsten alltäglichen Hoffnungsschimmer darf man ebenfalls nicht ignorieren. Nehmen wir All or Nothing, Leighs stilles Drama über britische "working poor" im sozialen Brennpunkt – mit Konzentration auf eine dysfunktionale Kernfamilie um den Taxifahrer Phil, dessen Frau Penny, die im Supermarkt als Kassiererin arbeitet, und ihre zwei Kinder, die es als übergewichtige Außenseiter schwer haben. Hinzu kommt, dass Sohn Rory heftig pubertiert, beziehungsweise seine gewalttätige und abschätzige Ader sich aus diversen Quellen speist. Man fragt sich, ob nicht ein Hauch Zartheit seiner Schwester Rachel, eine Spur Anständigkeit der rechtschaffenen Mutter, eine Prise Bescheidenheit des Vaters in ihm stecken, da dämmert uns allmählich, dass der Junge rebelliert, ohne zu wissen, wer Schuld an seinem Dilemma hat. In der Regel fallen in dieser Wohngegend und in diesem Milieu die Männer übereinander oder noch eher über die Frauen her – besonnene Reflexion ist eine Seltenheit. Aber Mike Leigh macht nicht den Fehler, die Proletarier als reine Karikaturen zu zeichnen, auch wenn er andererseits keine Lust verspürt, romantische Schönfärberei zu betreiben.
Mr. Turner – Meister des Lichts © Studiocanal
Toxische und tragische Familienbande also, so könnte man mit dem theoretischen Besteck von heute analysieren. Tatsächlich erzählt der so schonungslose wie überraschend wundervolle All or Nothing aus dem Jahr 2002 von schier unumstürzlichen und bis dato weiter bestehenden Klassenverhältnissen – und letztlich doch auch vom Glauben. Ja, es muss der Glaube an die Menschen sein, der jemanden wie Mike Leigh antreibt, ansonsten könnte er nicht derart einfühlsam von menschlichen Schicksalen erzählen, dass es anderen Menschen Tränen in die Augen treibt – vor Rührung, vor Verzweiflung, gar vor Momenten flüchtigen Glücks. Der Wunsch, diese Augenblicke festzuhalten, war offenkundig sein Antrieb, Filmregisseur zu werden. Ausgerechnet die – in seinen Augen – Flüchtigkeit des Theaters führte Theatermann Mike Leigh an seinen Platz hinter der Kamera, und mit dem Drama um die Engelmacherin Vera Drake, die in den 1950er Jahren in London illegale Abtreibungen durchführt; mit dem Meisterstück über die Irrungen und Wirrungen von Race und Class im Fluchtpunkt einer besonderen Mutter-Tochter-Beziehung, nämlich Lügen und Geheimnisse; sowie mit dem melancholischen Porträt kleinbürgerlichen Vorstadtlebens in Another Year hat er Filme geschaffen, die auch ohne spektakuläre Elemente lange in Erinnerung bleiben. Das ist möglich, weil Mike Leigh verschiedene wichtige Dinge beachtet, wenn er die inneren Kämpfe seiner Charaktere mit den äußeren Umständen verdeutlicht. Vor allem weiß er, dass man sich Zeit lassen sollte, um Menschen und ihre Geschichten wirklich zu durchdringen, und sie auf sich wirken lassen, damit sie sich in all ihrer Komplexität entfalten können, selbst wenn die Verhältnisse einfach erscheinen, aus denen sie stammen – und in denen sie nicht selten gefangen bleiben.
Another Year © Studiocanal
Ein besonders schönes Beispiel für das nötige Feingefühl ist Leighs zurückgenommenes Biopic über einen der bekanntesten Landschaftsmaler der Historie, William Turner. Im Kostümfilm Mr. Turner – Meister des Lichts bringt er Realismus und Kunst in der Figur des grummeligen Genies zusammen. Herbe Umstände, raue Sitten und eine unergründliche Sensibilität in den Details zeichnen die gut zwei Stunden aus. Nichts wird mit dem Holzhammer erklärt, da ist er ganz nah bei Turners virtuosem Pinselstrich. Überhaupt gibt es trotz der stets eindeutigen Haltung in Mike Leighs Filmen immer jene leisen Andeutungen, die erst laut nachzuklingen beginnen, wenn man später noch mal über das Gesehene nachdenkt. Diese Leistung, das Publikum über das Filmende hinaus zu fesseln, markiert nicht zuletzt den Übergang von der Kunst zum Leben. Bleibt die Frage, wie der Sprung vom guten Film zum besseren Leben zu schaffen sei – und ja, auch davon handeln Mike Leighs Dramen.
WF