Du sagtest vor Jahren mal in einem Interview, du hättest deine Grundausbildung in Sachen Film im Fernsehen bekommen. Kannst du mal erzählen, wie die aussah?
Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nicht wirklich filmaffin war. Wir hatten lange Zeit aus Prinzip keinen Fernseher, weil bei uns eher gelesen wurde. Nicht, dass mir da groß was fehlte. Unsere Familie hat Anfang/Mitte der 60er ein paar Jahre lang in Amerika gelebt. Mein Vater war Mathematik-Professor und hat da recht abenteuerlustig verschiedene Unis abgeklappert. Er war eine Zeit lang in South Bend in der Nähe von Chicago und dann sind wir von dort nach Berkeley gezogen. Meine Eltern haben die gesamte Familie samt Tante in einen VW-Variant gepackt und sind quer durchs Land gefahren – da erlebte ich – ohne es zu wissen – mein ganz persönliches Roadmovie, das war für mich als Kind der Wilde Westen, da brauchte ich keinen Fernseher und auch kein Kino. In der Nähe von Berkeley gab es diese riesigen Kornfelder, in denen wir öfters gespielt haben. Das sah exakt so aus wie bei Stephen Kings "Kinder des Zorns": aufregend und auch gruselig. Wozu hätte ich da Horrorfilme gebraucht? Meine Phantasie wiederum kam damals vor allem aus Büchern z.B. von C.S. Lewis, dessen „Narnia“-Reihe mich in den Bann zog. Erst viel später, längst zurück in Deutschland, bekam ich eher durch Zufall den entscheidenden und einschneidenden Kontakt zum Film: Als ich 18 wurde, stellte ich mir einen Fernseher ins Zimmer, um Fußball schauen zu können. Als begeisterter Aktiver und Fan war ich es satt, die damals noch raren Sportsendungen nur im Fernsehzimmer der Kirchengemeinde abpassen zu können. Wir wohnten in Konstanz am Bodensee und so konnte ich nicht nur die drei deutschen Programme, sondern auch die aus Österreich und der Schweiz empfangen. Und die spielten in den 70ern die Filmklassiker rauf und runter, vor allem das klassische Hollywood. Da habe ich Feuer gefangen und kam mir vor, wie ein Kind, das nachts in einem Bonbon-Laden eingeschlossen ist…! Heute wäre das in der Form natürlich nicht mehr möglich, dafür hat sich das Fernsehprogramm zu sehr geändert.
Gab es denn konkret auch ein, zwei Filme und Regisseure, die du als besonders prägend benennen kannst?
Neben Hitchcock waren das vor allem Ernst Lubitsch und Billy Wilder (Manche mögen’s heiß, The Apartment). Frank Capra und Howard Hawks standen bei mir auch hoch im Kurs. Das war eben das, was damals im Fernsehen lief. Europäisches und deutsches Kino habe ich erst etwas später für mich entdeckt. Das klassische Hollywood Kino war so ein bisschen meine Basis und dann hat sich der Blick geweitet im Laufe der Jahre.
Die Filmgalerie finden Sie in der Invalidenstraße 148 in Berlin-Mitte. © Filmgalerie
Vom Filmfan bis zum Inhaber einer der traditionsreichsten Videotheken Deutschlands ist es trotzdem ein langer Weg. Wie fing das an?
1979 begann ich an der Uni Stuttgart ein Architektur-Studium und wurde kurze Zeit spätern aktives Mitglied des "Uni-Film", der studentischen Film-AG. Das war natürlich spannend – und ziemlich privilegiert: Wir hatten zwei große Hörsäle mit echten 35mm-Film-Kino-Projektoren und veranstalteten während des Semesters zwei bis drei Kino-Vorstellungen pro Woche. Außerdem hatten wir in unserem Büro bald einen Farbfernseher und sogar einen VHS-Videorekorder – zu der Zeit quasi High-Tech. Als wir damit zum ersten Mal einen Film aufgenommen haben, waren wir dermaßen fasziniert, das mag man gar nicht glauben. Ich hing also viel in diesem Büro ab mit meinen Kommiliton*innen. Wir haben Filme geschaut, sind auf Vereinskosten ins Kino und haben Filmkritiken geschrieben. Kurz: Herrliche Zeiten! Da gab es dann eine Clique, der die Idee einer eigenen Videothek nicht aus dem Kopf ging. Die sollte aber auch anders, „besser“ sein als das, was wir bis dahin kennengelernt hatten: Eine echte cineastische Sammlung nämlich - zugänglich für alle Altersgruppen, eben kein weiterer Kommerz-Laden mit unvermeidlicher Porno-Ecke. Als ich Mitte der 80er ein Jahr als Bauleiter arbeitete und gut verdiente, wurde diese Idee dann konkret: Wir legten zusammen und konnten dann am 9. Februar 1987 den Start wagen mit dem eigenen Laden in Stuttgart. Das ist jetzt also genau 35 Jahre her und im Mai sind es wiederum 21 Jahre, die wir auch (und inzwischen nur noch) in Berlin ansässig sind.
Stammt der Name auch aus der Zeit?
Ja, wir haben uns lange den Kopf zerbrochen. Die 451 wollten wir natürlich wegen Fahrenheit 451 von François Truffaut und das Wort Filmgalerie traf es dann am besten. Als wir 2013 innerhalb von Berlin umziehen mussten an unseren jetzigen Standort in der Invalidenstraße, haben wir den Laden in „Filmgalerie Berlin“ umbenannt, um Verwechslungen mit dem ebenfalls aus der Videothek hervorgegangen DVD-Label, der Filmproduktion und dem Kinoverleih zu vermeiden, die unter dem Gründungsnamen "Filmgalerie 451" firmieren.
Wie schafft man es, über 28.000 verfügbare Titel unterbringen zu können? So. © Filmgalerie
Sich "Filmgalerie" zu nennen, war zu der Zeit ja schon auch ein Statement, oder? Die Videotheken boomten, überall gab es diese großen Ketten, die aber mit ihrer grellen Beleuchtung oft etwas von einem Discounter hatten ...
Klar. Wir wollten uns abgrenzen. Man muss halt wissen, wie es damals in Deutschland aussah: Videotheken haben vor allem mit dem Slogan geworben „Wir zeigen alles, was das Fernsehen nicht zeigen darf!“ Im Klartext: Gewalt, Horror und Pornografie standen im Vordergrund und waren eben auch Umsatz-Treiber. Irgendwann schreckte das den Jugendschutz auf und der trat dann heftig auf die Bremse: "Zutritt nur ab 18" und zugeklebte Schaufenster wurden daraufhin zum fatalen Markenzeichen der Branche und verfestigte in den Köpfen der potentiellen Kunden das Schmuddelimage. Wir wollten von Anfang an ein anderes Publikum anziehen - was aber nicht bedeutete, sich im Laufe der Jahre ausschließlich auf die puren cineastischen Highlights, auf Truffaut, Tarkowski, Wenders & Polanski zu beschränken. Wir haben kontinuierlich an unserer kuratierten, immer breiter werdenden Sammlung gearbeitet, Kataloge und Lexika erarbeitet, bis wir auf dieser Basis Anfang der 2000er die jetzt so wichtige Online-Datenbank aus der Taufe heben konnten. Da waren wir auch ein bisschen Pioniere. Und vielleicht hat uns eben auch gerettet, dass wir konsequent unser Konzept durchgezogen und unsere Kollektion nicht nur in den Zeiten, in denen es wirtschaftlich besonders gut lief, sondern auch danach unbeirrt erweitert haben. Wir haben dabei nie gesagt: 'Wir nehmen nur die gescheiten Sachen und alles, was nicht unmittelbar interessiert, muss raus.' Wir sind filmisch sehr breit aufgestellt, haben zwar im Kern diese cineastische Sammlung, aber durch Unterschiedlichstes aus allen Richtungen der Filmgeschichte ergänzt: Wir präsentieren so dem Interessenten ein vielschichtiges bis detailliertes Bild der Filmgeschichte, ein historisches Panorama, wenn man so will, wie eine Landschaft: Da gibt es gleichermaßen dunkle Täler wie lichte Höhen...
Ich würde sagen: Genau das ist euer Geheimrezept und der Grund, warum es euch noch gibt. Wer gezielt bestimmte Filme sehen will, wird mit Streaming einfach nicht glücklich. Das Angebot ist auf verschiedene Plattformen verteilt und sehr viele Filme findet man schlichtweg nicht.
Das stimmt. Eine ganz konkrete Reaktion gab es aber auf die Streaming-Konkurrenz: Wir haben seit einer Weile ein Flatrate-Angebot. Das hätte ich mir vor ein paar Jahren noch nicht vorstellen können, aber jetzt funktioniert es sehr gut und geht auch unterm Strich auf. Unsere Kund*innen schätzen aber in erster Linie, das wir mit guten Filmen assoziiert werden und die Leute wissen, dass wir Ahnung haben. Auch unsere Online-Datenbank, die wir 2004 an den Start brachten, spielt mittlerweile eine ganz große Rolle. Da kann man die ganze Bandbreite sehen. Wir schreiben zwar Empfehlungen und erklären, worum es in einem Film geht, aber ansonsten gilt: Man kann aus der gesamten Breite frei auswählen, aus welchen Gründen auch immer. Es ist nicht unsere Aufgabe jemandem vorzuschreiben, was er oder sie zu sehen hat. Bei über 28.000 Titeln ist es völlig klar, dass das nicht alles Cannes-Gewinner sein können. Mir war es aber wichtig, dass da der Trash und Produktionen, die z.B. in den 70er-Jahren millionenfach die Kinos in Deutschland gefüllt haben, ebenso zu finden sind. Wir haben auch etliche Filme mit, sagen wir, Dolph Lundgren und Chuck Norris… Auch die sind halt Teil eines diversen kulturellen (Film-)Erbes.
Und heutzutage kann man halt mit den Chuck Norris-Videos seinen Kids zeigen, wo die Memes herkommen, die sie die ganze Zeit bei WhatsApp posten ...
Das ist das Interessante an dem Medium Film. Da fließen so viele Dinge zusammen. Und natürlich hat das Kino ja auch seine Wurzeln im Jahrmarkt. Blödsinn, Nonsense und jede Art von Freaks gehören also absolut dazu. Und sind genauso wichtig wie das zutiefst Ernsthafte, das trocken Essayistische oder das intellektuelle Vexierspiel. Oder eben die Filme, die man für seine Kinder ausleihen will. Gerade die Familien sind uns sehr wichtig. Wir sind ja jetzt 21 Jahre in Berlin und da haben wir schon die eine oder andere Familie wachsen sehen, manche haben sich gar hier kennengelernt. Die haben dann früher Das Dschungelbuch für ihre Kids ausgeliehen und inzwischen kommt der volljährige Sohn und holt sich die Filme, die er für sein Studium braucht.
Gibt es neben den treuen Familienkund*innen denn auch Filmschaffende, die regelmäßig vorbeischauen?
Klar. Max Riemelt, der jetzt auch beim neuen Matrix mitgespielt hat, kommt oft. Oder Oskar Roehler. Einige Mitarbeiter sind später auch Regisseure geworden: Burhan Qurbani zum Beispiel hat den neuen Berlin, Alexanderplatz gedreht. Oder Lisa Bierwirth, Jobberin der ersten Stunde in Berlin, die kürzlich mit Le Prince ihren ersten Kinofilm präsentierte. Der prominenteste vielleicht ist, obwohl hierzulande weniger bekannt, Robert Schwentke: Der hat in der Pionierziet der 80er in Stuttgart gejobbt, von wo aus er später nach Hollywood aufbrach, dort einige Genrefilme realisieren konnte (Flightplan, R.E.D, Insurgent) um dazwischen auch mal wieder in Deutschland ein bemerkenswertes schwarz-weißes Kriegsdrama zu inszenieren: Der Hauptmann.
Welche Regisseur oder welche Regisseurin darf denn sehr gerne mal bei dir in der Videothek vorbeikommen?
Ach, wenn ich jetzt Tarantino sagen würde, wäre das ja langweilig (war ja auch schon da). Deshalb sage ich: Adam McKay. Der hat zwar Don’t Look Up jetzt leider Gottes für Netflix gedreht, aber ich verehre ihn sehr seit The Big Short und Vice. Die Art und Weise, wie er komplexe Themen aufgreift und sie lustig erzählt, ohne daraus Blödelfilme zu machen, das ist große Kunst. Mit ihm würde ich gerne mal über seine Filme und Drehbücher sprechen. Gerade konnte ich hier mal wieder als Kundin die renommierte Schauspielerin Vicky Krieps begrüßen, die zuletzt in Bergman Island von Mia Hansen-Løve brillierte und sich ehrlich freute, den Film bei uns bereits als Original-Import vorzufinden: Das sind die schönen Momente, die's braucht...
Daniel Koch