Arthur Garfunkel sitzt auf einer Parkbank – ja, genau DER Garfunkel, der sich mit Gitarre immer nur Art nannte – schaut mit bubenhaftem Blick auf seinen Kumpel Jack Nicholson und sagt: "Ficken kann nicht dein Leben sein." Und Nicholson antwortet: "Erzähl mir nicht, was für mich nicht kann." Es ist nur ein kleiner, expliziter Dialog ungefähr in der Mitte des Films, aber schon darin steckt die Essenz von Carnal Knowledge – Die Kunst zu lieben. Garfunkel und Nicholson spielen darin die langjährigen Freunde Sandy und Jonathan. Während ihrer College-Zeit teilen die beiden ein Zimmer und erzählen sich immer wieder in aller Ausführlichkeit, wie sie es mit der Liebe, den Frauen und dem Sex halten. Sandy ist der naive, charmante Romantiker, der im Anfangsdialog zugibt, dass er sich von dem Gedanken, Sex haben zu müssen, unter Druck gesetzt fühlt. Jonathan wiederum ist ebenfalls charmant – aber auf direkte, macho-hafte, lüsterne Art und Weise. Sein schönes Gesicht und sein dezent diabolisches Lächeln helfen ihm dabei, auch mit dieser Masche äußert erfolgreich zu sein. Auf einer Party sehen die beiden Susan (Candice Bergen), eine Jura-Studentin, die aufgeräumt, intelligent und entschlossen über den Dingen zu schweben scheint. Jonathan und Sandy interessieren sich beide für sie, aber ersterer lässt seinem schüchternen Freund den Vortritt. Sandy spricht sie tatsächlich im zweiten Anlauf an – und die beiden verabreden sich zu einem Date.
Für das erste Drittel des Films stehen die Drei im Zentrum der Erzählung: Jonathan gibt seinem Kumpel immer wieder toxische Männertipps, während Susan an Sandy liebt, dass er so ruhig und romantisch und süß ist. Wenn er also diese zweifelhaften Ratschläge umsetzt, fühlt sich Susan bedroht und unwohl. Jonathan wiederum entwickelt eine neidvolle Begierde und trifft sich hinter dem Rücken von Sandy mit Susan. Sie lässt sich auf das Spiel ein und holt sich bei Jonathan, was ihr bei Sandy fehlt: leidenschaftlichen, aggressiven Sex und das Gefühl, begehrt zu werden. Trotzdem wird sie sich am Ende für Sandy entscheiden. Ab diesem Moment konzentriert sich Carnal Knowledge auf die Jugendfreunde und springt über einen Zeitraum von 25 Jahren immer wieder in das (Liebes-) Leben der beiden. Sandy und Susan heiraten, werden Eltern, leben eine kultivierte, laut Sandy "langweilige" Beziehung. Jonathan versucht, der lüsterne Hengst zu sein, den er als Ideal eines Mannes begreift und trifft schließlich das Model Bobbie (Ann-Margret), die er für die „perfekte Frau“ hält – vor allem, weil sie das für Jonathan wichtige Ideal „dicke Titten“ mitbringt. Aber Bobbie ist nicht nur eine wunderschöne Frau, sie kämpft auch mit Antriebslosigkeit und Depressionen, was nach einer kurzen, vor allem körperlichen Erfüllung ihrer Beziehung zum Problem wird.
Jack Nicholson, Arthur Garfunkel und Candice Bergen am Set von Carnal Knowledge © STUDIOCANAL GmbH
Carnal Kowledge ist, das kann man bereits aus diesen Zeilen herauslesen, ein sehr expliziter Film. Was im Amerika Anfang der 70er-Jahre durchaus für Diskussionen sorgte. Als er im Sommer 1971 in die Kinos kam, fanden ihn viele Zuschauer:innen obszön. Zum einen, weil er ein paar, aus heutiger Sicht eher keusche Sexszenen zeigte – und hin und wieder nackte Männer- und Frauenhaut. Zum anderen, weil Jonathan und Sandy schon von den ersten Filmminuten an viel über Sex reden. Das Publikum war es damals noch nicht gewöhnt, dass jemand im US-Kino in einem Drama Worte wie "ficken" oder "Titten" benutzt. 1972 wurde sogar der Betreiber eines Kinos im Staate Georgia zu einer Strafe verurteilt, weil er mit dem Film "obszönes Bildmaterial" gezeigt habe. Erst 1974 wurde das Urteil vom Obersten Gerichtshof der USA wieder kassiert. In der Begründung steht: "While the subject matter of the picture is, in a broader sense, sex, and there are scenes in which sexual conduct including ‚ultimate sexual acts‘ is to be understood to be taking place, the camera does not focus on the bodies of the actors at such time." Auch das deutsche Kino schien Carnal Knowledge für obszön zu halten: Beim Kinostart 1972 trug der Film den unglaublichen deutschen Nebentitel: "Der obszöne Vogel der Lust". Ein Glück, dass man sich dann später für "Die Kunst zu lieben" entschieden hat – auch wenn inhaltlich betrachtet "der obszöne Vogel der Lust" der Liebe immer wieder die Augen auspickt.
Wenn man heutzutage den frisch restaurierten Film noch einmal schaut, kann man sich kaum gegen gewisse Vorbehalte wehren. Man fragt sich: Will man heute noch hören, wie zwei Männer 1971 über Sex redeten? Wie schlimm ist das Frauenbild, das dort gezeigt wird? Hat der Film das Zeug ein Cancel-Klassiker zu werden? Umso überraschter ist man dann über die vielen Zwischentöne, die man in den Dialogen und Szenen des Films findet. Zwar hat Jack Nicholsons Charakter durchaus toxische Züge, aber Regisseur Mike Nichols und Drehbuch-Autor Jules Feiffer glorifizieren diese in keiner Weise. Eher im Gegenteil: Weder Sandy noch Jonathan werden von schmerzhaften Einsichten verschont. Beide hadern auf ihre Weise mit ihren Ansprüchen an Liebe, Sex und Zärtlichkeit und sind im Grunde manchmal ziemlich traurige Gestalten. So wird der lüsterne Frauenjäger Jonathan am Ende zu einem Mann, der eigentlich nur noch bei seiner Stammprostituierten eine Erektion bekommt – wenn diese ihm, nach einem abgesprochenen Skript, erzählt, was für ein starker, toller Hecht er doch ist. Sandy wiederum geifert auf seine ruhige Weise anderen Frauen nach – zum Beispiel Jonathans Freundin Bobbie. Und er hat am Ende des Films eine neue Freundin, die gerade mal 19 Jahre alt ist. Mit diesen Szenen und mit vielen Dialogen scheinen Nichols und Feiffer die damals herrschenden Männerbilder sabotieren zu wollen. Während andere Filme der Zeit toughe Gangster und virile Frauenschwärme glorifizierten, darf Jack Nicholson hier in einer Bar seinem besten Freund erzählen, dass er mit Erektionsproblemen zu kämpfen hat. Ein erstaunlicher Moment – in diesem durch und durch erstaunlichen Film. Dass Carnal Knowledge damals bei vielen Männern einen empfindlichen Nerv traf, zeigt auch ein Fun-Fact, den die Schauspielerin Cynthia O’Neal in einem Interview für das Buch "Mike Nichols’s Life and Career: The Definitive Oral History" zum Besten gab. Darin erzählt sie: "Marlon Brando war besessen von Carnal Knowledge. Er hat den Film immer und immer wieder geschaut, und saß dabei immer wie gebannt vor dem Fernseher."
Mike Nichols wähnte sich damals in einer guten Position für einen provokanten Film. Nach Die Reifeprüfung und Catch-22 war er ein in Hollywood begehrter Regisseur. Als er das Skript von Jules Feiffer bekam, der eigentlich ein Theaterstück im Sinn hatte, wusste Nichols sofort, dass er die Geschichte ins Kino bringen wollte. "Als ich es gelesen hatte, wusste ich sofort, was für einen Film ich daraus machen musste." Feiffer selbst war dabei zunächst überhaupt kein Fan von Jack Nicholson. "Mike sagte zu mir: 'Da gibt’s diesen Typen namens Nicholson in Easy Rider – hast du den gesehen?' Hatte ich nicht. Also schaute ich ihn mir an. Ich mochte weder den Film noch Jack Nicholson. Aber Mike sagte: 'Vertrau mir, der wird nach Brando der wichtigste Schauspieler, den wir haben.' Ich sorgte mich ebenso, ob Candy Bergen die Rolle der Susan spielen kann. Und Mike sagte auch hier: 'Vertrau mir.' Das passierte immer und immer wieder: Ich hatte meine Zweifel, Mike nahm sie mir – und lag immer goldrichtig."
Goldrichtig ist auch die Entscheidung, diesen intensiven Film heute noch einmal anzuschauen – und sich vielleicht ein paar Gedanken über das Thema Männlichkeit zu machen. Denn eine Sache macht Carnal Knowledge – Die Kunst zu lieben ganz nebenbei deutlich: Wenn Männer nur unter Männern über Sex und Frauen sprechen – und niemals mit Frauen – kommt selten etwas Gutes dabei raus.
Daniel Koch