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Die letzten Minuten von Flug 93

Es war der erste Kino-Film über die Ereignisse am 11. September 2001 – und es ist einer der eindringlichsten. Ein Blick auf Flug 93 von Paul Greengrass, der einen mit klinischer, kalter Wucht aus dem Sessel haut.

Filmgeschichten 22. November 2019

Wir wollen Ihnen an dieser Stelle nichts vormachen: Am Ende von Flug 93 werden Sie vermutlich wie der Autor dieser Zeilen schluchzend vor dem Fernseher sitzen und auf einen schwarzen Bildschirm starren – der erst nach einigen Sekunden der letzten, geschriebenen Worten weicht.

Der Film des britischen Regisseurs Paul Greengrass führt uns an Orte, an denen man nicht sein will. Unter anderem an Bord von Flug 93. So lautete die offizielle Bezeichnung der Boeing 757-200, die am Morgen des 11. Septembers 2001 für United Airlines von Newark nach San Francisco fliegen sollte. Es kam bekanntlich anders: Flug 93 war eine von vier Maschinen, die von islamistischen Terroristen gekapert wurden. Zwei von ihnen wurden in die Türme des World Trade Centers gesteuert, eines krachte ins Pentagon. Flug 93 erreichte das von den Terroristen ausgewählte Ziel – vermutlich das Weiße Haus oder das Kapitol in Washington D.C. – nicht. Die Maschine stürzte in Shanksville, Pennsylvania auf ein Feld, nachdem die Passagiere die Terroristen attackierten und beschlossen das Cockpit zu stürmen – das belegen die Aufnahmen des Voice Recorders und dokumentierte SMS sowie Gespräche der Passagiere über Notruf-Telefone. Diese Geschehnisse, oder vielmehr Greengrass' Interpretation davon, sind die letzten Minuten des Films.

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"Zu früh! Zu früh!"

Anfang April 2006. Die ersten Trailer zu Flug 93 laufen in amerikanischen Kinos vor Spike Lees Inside Man. Die Weltpremiere von Flug 93 ist für den 25. April geplant, im Rahmen des Tribeca Film Festivals. Die ersten Reaktionen sind verärgert: In Los Angeles brüllt ein älterer Herr "Zu früh! Zu früh!" und verlässt wütend das Kino. In New York drängen die Mäzene eines Kinos, den Trailer aus dem Programm zu nehmen. Der Verleih fühlt sich zu einem Statement geäußert. Adam Fogelson, damals Marketingleiter von Universal, sagt der New York Times: "Der Film ist ein ehrlicher und realistischer Blick auf die Ereignisse." Man habe den Trailer nicht abschwächen wollen, weil das einen falschen Eindruck vermittelt hätte. Trotzdem nahmen viele den Trailer aus dem Programm, was auch an Äußerungen lag wie jener von Paula Berry, deren Mann zu den Toten im World Trade Center gehörte. Sie sagte: "Einen Film sucht man sich aus, man entscheidet sich, ihn anzuschauen, man bereitet sich emotional darauf vor. Ein Trailer erwischt dich kalt vor einem anderen Film."

Die Frage, ob der ganze Film "zu früh" dran sei, beschäftigte Regisseur und Drehbuchautor Paul Greengrass ebenso. Er sagte dem Spiegel in einem Interview dazu: "Ich bin da etwas hin und her gerissen. Einerseits wurde ich in den vergangenen Wochen sehr häufig mit der Frage konfrontiert, ob es nicht zu früh sei für einen Kinofilm über den 11. September, andererseits kam diese Frage nie, wirklich kein einziges Mal auf, als ich mich mit persönlich Betroffenen, also Angehörigen der Terror-Opfer unterhalten habe. Die fragten vielmehr, wieso es so lange gedauert habe, bis sich jemand damit filmisch auseinandergesetzt hat. Ich halte es für widersinnig, dass jeder Fernsehsender rund um den Globus, jede Radiostation, jede Zeitung, jedes Internet-Magazin und unzählige Bücher sich dem Thema über Jahre intensiv gewidmet haben, aber ein Kinofilm offenbar nicht sein darf oder ‚zu früh‘ kommt. Es kommt mir widersinnig vor, das Kino in eine Sonderrolle zu drängen."

"Ich wusste zuerst nicht, welchen Aspekt der Tragödie ich thematisieren wollte, doch mir war klar, dass ich die Ereignisse wahrheitsgetreu abzubilden versuchen würde."

Der richtige Mann

Im Rückblick – vor allem mit den späteren 9/11-Filmen im Sinn – ist es ein Geschenk, dass ausgerechnet ein Engländer den ersten Versuch startete. Und Greengrass tat dies nicht leichtfertig. Bevor es so richtig losging, holte er sich die Zustimmung der Angehörigen. Sie zählten zu den ersten, die den fertigen Film sehen durften. Auch die Schauspieler – bewusst keine "großen" Namen – besuchten die Angehörigen der Passagiere, um ihre Rollen zu entwickeln. Und Greengrass hatte Erfahrungen damit, reale, traumatisierende Ereignisse in fast dokumentarisch anmutende Erzählungen zu verwandeln. Sein Bloody Sunday über diesen schicksalhaften Sonntag im Jahr 1972 im Irland-Konflikt zeugt davon. "Ein Regisseur wie ich, der sein Herzblut in ein solches Projekt steckt, ist der sicherste Garant dafür, dass es ein Film wird, auf den man stolz sein kann", sagte Greengrass dem Spiegel durchaus selbstbewusst. Und weiter: "Dabei wusste ich zuerst nicht, welchen Aspekt der Tragödie ich thematisieren wollte, doch mir war klar, dass ich die Ereignisse wahrheitsgetreu abzubilden versuchen würde. Ich habe mich immer schon mit solch kontroversen, schwierigen Themen beschäftigt, vor allem in meinen Filmen über Nordirland."

Der richtige Ton

Das Ergebnis fühlt sich an wie eine besonders packende Reportage über den 11. September. Greengrass erzählt die bekannten Geschehnisse mit einem fast klinischen Blick auf Abläufe und Details. Er konzentriert sich nicht nur auf den Flug, sondern springt umher zwischen dem Tower des New Yorker Flughafens und der Zentrale der Flugsicherheit. So gelingt es ihm herauszuarbeiten, wie der Terror erst langsam in den Arbeitsalltag kriecht und dann – ohne pathetische Musik oder sonst was – als kalte, schockierende Einsicht in Gewissheit umschlägt. Die Szene, in der man im Tower des New Yorker Flughafens, erst Minuten nach dem ersten Crash realisiert, dass die über Manhattan auf dem Radar verschwundene Maschine der Grund ist, warum das World Trade Center qualmt, gehört zu den härtesten des Films. Nicht, weil man die Opfer im Bild sieht, sondern weil man in den Gesichtern des Tower-Personals ablesen kann, dass dieser Angriff alle Notfall-Szenarien sprengt.

Die letzten Minuten an Bord von Flug 93 erzählt Greengrass im gleichen Ton. Er pickt sich keine Einzelperson als Held oder Heldin heraus, sondern zeigt mit teilweise improvisierten Dialogen, wie die Passagiere im hinteren Teil des Flugzeugs über geheime Telefonate über die Notfalltelefone und SMS von den Anschlägen in New York erfahren – und schließlich realisieren, dass die Maschine nicht irgendwo landen wird, um Lösegeld zu erpressen, sondern ein Suizid-Kommando ist. Diese Telefonate sind teilweise dokumentiert und haben einem schon beim Lesen damals das Genick gebrochen. So zum Beispiel das Telefonat von Jeremy Glick, einem ehemaligen Judo-Profi. Er telefonierte mit seiner Frau Lyz, sagte ihr: "Hör zu, hier sind einige böse Menschen an Bord." Er erzählte ihr, man habe mit den anderen Passagieren dafür gestimmt, einen Angriff zu wagen. Ob das eine gute Idee sei? Seine Frau antwortet, dass sie es nicht wisse, fragte ob die Terroristen Waffen hätten. "Nein, nur Messer. Und einige von uns holen gerade die Buttermesser von den Stewardessen." Dann sagt seine Frau ihm: "Ich denke, ihr müsst es tun. Du bist stark. Du bist mutig. Ich liebe dich."

Es sind diese Szenen, die den Film so wuchtig machen. Greengrass gelingt es in Flug 93 Zeitgeschichte und eine Heldengeschichte zugleich zu erzählen, und zwar eine, die von Anfang an kein Happy End kennt – und keine Heldinnen oder Helden, die heller strahlen als andere. Er zeigt nüchtern und hart das letzte Aufbäumen verzweifelter Menschen, die damit Schlimmeres verhindert haben.

DK

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