Zum Aufwärmen eine einfache Frage: Welchen Film hast du als letztes im Kino gesehen?
Parasite.
Hat er dir gefallen?
Meistens. Ich mochte den ersten und zweiten Akt sehr. Der Auftakt ist fantastisch, der Mittelteil ist fantastisch aber gen Ende hin wird alles zu einem riesigen Zirkus, weil die Dinge, die passieren, endlich Gerechtigkeit bringen sollen. Diesen Teil mochte ich nicht so sehr. Ich denke, es ist ein sehr guter Film, aber ich denke nicht, dass es ein herausragender Film ist. Danach habe ich Joker gesehen, den mochte ich auch sehr. Das ist ein sehr, sehr gut gemachter Film. Die Art, wie hier mit psychologischen Problemen umgegangen wird, ist wundervoll. Und die Performances sind überragend. Ich wurde sehr von der Message des Films berührt und wurde noch lange gezwungen, über ihn nachzudenken und darüber, was ich da gerade gesehen habe.
Regisseurin Marjane Satrapi (li.) und das Ehepaar Curie (Sam Riley und Rosamund Pike) © Studiocanal GmbH / Laurie Sparham
Kommen wir nun zu deinem eigenen Film. Du hast ein Porträt über Marie Curie inszeniert. Es ist nicht der erste und auch nicht der zweite Film über Marie Curie. Hast du dir diese Filme vorher angeschaut?
Ich habe sie tatsächlich mal gesehen, aber das ist schon ein paar Jahre her. Ich habe sie mir nicht extra für meinen Film noch einmal angeschaut. Denn was ich an Biopics nicht mag, ist, wenn sie einfach nur erzählen, was der porträtierten Figur passiert ist. Doch im Falle einer Person wie Marie Curie bot sich für ein Biopic viel mehr an, weil sie ein so außergewöhnliches Leben geführt hat. Du hast ihre Lebensgeschichte, aber auch die Frage nach der Ethik der Wissenschaft und was wir als Menschen mit unseren wissenschaftlichen Entdeckungen anstellen und anstellen dürfen. Das geht weit über ein klassisches Biopic hinaus.
Ich sehe im Jahr so viele verschiedene Biopics über ganz viele, bekannte Persönlichkeiten. Aber dieses hier ist ganz anders. Du erzählst nicht einfach nur die Geschichte um Marie Curie, stattdessen hast du eine eigene Welt für sie kreiert. Auf welche Art und Weise wolltest du den Film zu ihrem machen?
Für mich als jemand, der auf dieser Welt lebt, wie wir sie jetzt kennen, kann ich nicht sagen: Radioaktivität hat nichts mit Tschernobyl oder der Atombombe zu tun. Natürlich hängt das miteinander zusammen. Doch sind diese furchtbaren Ereignisse die Schuld der Person, die die Radioaktivität erfunden hat? Natürlich nicht. Alfred Nobel erfand das Dynamit dafür, um Bergarbeitern die Arbeit in den Minen zu erleichtern, indem sie sich mit dem Dynamit die Wege freisprengen. Aber er wusste zu dem damaligen Zeitpunkt nicht, dass man es später im Krieg verwenden würde, um Millionen von Menschen zu töten. Sollen wir also Menschen davon abhalten, Dinge zu entdecken? Wenn wir das täten, entwickeln wir uns rückwärts. Es liegt in unserer Natur, zu forschen und Dinge zu entdecken. Und das sollten wir auch weiterhin tun. All das waren sehr wichtige Fragen für mich.
"Marie Curie war neben Simone de Beauvoir seit jeher eines meiner großen Vorbilder, da mich meine Mutter von Anfang an zu einer starken, unabhängigen Frau erzogen hat. Ich bin also praktisch mit dieser Person aufgewachsen. Und all die Aspekte, die ich mit ihr Verbinde – ihre Wissenschaft, ihr Liebesleben, ihr Tod – all das gehört zur selben Geschichte rund um diese Frau."
Die Frage, wie ich aus all dem einen Film machen und wie ich etwa ihren Schmerz nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes einfangen könnte, oder auch die Albträume in ihrem Kopf visualisieren, das waren die Dinge, die für mich interessant waren. Und nicht: Wie kann ich den Menschen Radioaktivität zeigen? Das kann ich nicht, Radioaktivität ist unsichtbar. (lacht) Ich musste also eine Geschichte über etwas, was unsichtbar ist, über eine Geschichte über etwas Sichtbares erzählen. So war es mir möglich, diese Welt zu kreieren.
Marie Curie (Rosamund Pike) verwendet eine Radiumprobe als Nachtlicht neben ihrem Bett. © Studiocanal GmbH / Laurie Sparham
In den vielen Jahren, die ich bereits Interviews mit Filmemachern führe, ist dies hier das erste Gespräch mit einer weiblichen Regisseurin, was sehr traurig ist. Denkst du, dass Biopics über Frauen auch von Frauen gedreht werden sollten?
Ich denke, das ist eine Frage der Sensibilität. Einer der besten Schriftsteller, die je das Innenleben einer Frau eingefangen haben, war ein Mann: Flaubert. Er ist ein großartiger Autor, hatte nie eine Ehefrau und blieb bis zum Ende seines Lebens Jungfrau. Und doch ist "Madame Bovary" eines der besten Bücher über eine Frau. Ich denke daher nicht, dass man vom selben Geschlecht sein muss, wenn man eine Geschichte über einen Menschen erzählen möchte. Auf der anderen Seite halte ich es für sehr, sehr wichtig, dass wir Geschichten über Frauen erzählen. Das ist es auch, was ich an diesem Film so mag. In den meisten Filmen ist die Frau immer von irgendwem oder irgendwas abhängig. Sie ist "die Ehefrau von…", "die Freundin von…", "die Mutter von…", "die Tante von…". Sie gehört immer zu irgendjemandem. Doch Frauen sind nicht immer nur Mutter, Tochter oder Liebhaberin. Wenn wir uns einmal überlegen, dass 50 Prozent der Weltbevölkerung Frauen sind, wäre es schon irgendwie ganz schön, wenn auch 50 Prozent der Filme auf dieser Welt von Frauen handeln würden. Letztlich geht es also einfach nur darum, eine Frau als unabhängige Person darzustellen. Daher würde ich nicht pauschalisieren, welches Geschlecht welche Filme inszenieren sollte. Für mich macht das keinen Unterschied. Natürlich gibt es manchmal männliche Regisseure, die einfach nur ihre Fantasien ausleben wollen. Aber seien wir ehrlich: Es gibt auch Frauen, die das tun. Schauen wir uns doch nur mal all diese Frauenmagazine an. Ich würde die niemals lesen. Da stehen so Sachen drin wie "Wie verliere ich fünf Kilo in einer Woche?" oder "Was tue ich, wenn mein Ehemann das und das macht" und so weiter und so fort. Es geht um Botox, ums Kochen – im Jahr 2019! So etwas repräsentiert mich und uns kein Stück! Erst recht nach #MeToo müssen einfach Geschichten über Frauen erzählt werden. Aber natürlich auch nicht nur. Man sollte Frauen einfach genau so berücksichtigen wie Männer auch. Was wir aber nie vergessen dürfen: Filme über Männer können genauso schlecht oder gut sein, wie Filme über Frauen. Auch weibliche Regisseurinnen können schlechte Filme machen. Genauso wie männliche Regisseure gute Filme machen können. Aber um das zu beweisen, muss man auch Regisseurinnen die finanziellen Möglichkeiten geben, die Regisseure oft haben. Ich glaube sogar, dass es ein geringeres Risiko für einen Produzenten wäre, einer Frau ein Budget zur Verfügung zu stellen, weil Frauen nicht so große Zocker sind wie Männer. Denkt man außerhalb von Stereotypen ist das Geschlecht nicht ausschlaggebend für Qualität. Wir sollten aufhören in "Männerfilm" und "Frauenfilm" zu denken. Das gilt übrigens auch für die Asian Community, die Black Community usw. Wir sollten einfach die besten Leute ihre Arbeit machen lassen – unabhängig von Herkunft und Geschlecht.
Kannst du drei großartige Filme mit weiblichen Hauptrollen nennen?
Whatever Happened To Baby Jane? ist großartig. All About Eve ist ebenfalls ein toller Film, der von einer wahren, unerschütterlichen Liebe erzählt. Gloria. Ich liebe ihn! Und Wer hat Angst vor Virginia Wolf?
Pierre (Sam Riley) und Marie Curie (Rosamund Pike) bei einer gemeinsamen Radtour. © Studiocanal GmbH / Laurie Sparham
Maries Ehemann spielt in Marie Curie – Elemente des Lebens eine wichtige Rolle. Wie wichtig war es für den Film, auch seine Geschichte zu erzählen?
Sehr wichtig. Weil die beiden ein Paar waren. Marie Curie war ein Genie. Aber er auch. Sie war eine großartige Chemikerin. Pierre Curie war ein großartiger Physiker. Sie waren zwei verheiratete Wissenschaftler, die in ihrer Beziehung vollkommen gleichgestellt waren. Er respektierte sie als Wissenschaftlerin. Die beiden bewunderten sich gegenseitig. Im 19. Jahrhundert waren die beiden ein sehr modernes Paar. Und das machte ihre Arbeit zum Teil sehr schwer. Denn für sein Schaffen ausgezeichnet wurde nur er. Etwa für den Nobelpreis. Er musste erst darauf hinweisen, dass beide dieselbe Arbeit geleistet hatten und Marie nicht einfach nur Pierres Assistentin war. Daher habe ich auch nie einen Wettstreit zwischen den beiden beabsichtigt. Beide griffen sich gegenseitig unter die Arme. Ihre Leistungen machten seine noch besser, genauso wie andersherum. Das ist wie bei den Oscars: Gute Nebendarsteller können die Hauptdarsteller noch besser aussehen lassen. Und trotzdem hat die Gesellschaft sie nicht gleichbedeutend wahrgenommen. Es gibt beispielsweise einen Bahnhof in Frankreich, der nach Pierre Curie benannt wurde. Erst später benannte man ihn nach dem Ehepaar um. Deshalb wäre es auch nicht richtig gewesen, nur ihre Geschichte zu erzählen. Denn wenn man sich Marie im Film anschaut, wird man auch sehen, was er für einen emotionalen Einfluss auf sie hatte. Es gibt eine Marie vor und nach dem Tod ihres Ehemannes. Er war einer der wichtigsten Dinge in ihrem Leben.
Ich bin ein sehr großer Fan von Rosamund Pike. Ich liebe sie seit ihren frühesten Anfängen. Hast du sie für die Rolle selbst ausgewählt?
Ja. Ich hatte zuvor sehr viele Filme mit ihr gesehen und sie wirkte auf mich immer sehr intensiv und intelligent. Und Intelligenz kann man nicht vortäuschen. Man hat sie oder man hat sie nicht.
"Wenn du jemanden wie Marie Curie besetzen möchtest, musst du jemanden auswählen, der zumindest ansatzweise ihre Intelligenz widerspiegeln kann. Denn man muss ihre Intelligenz auch im Kinosaal noch spüren können. Als ich Rosamunde das erste Mal traf, dauerte es keine fünf Minuten und ich merkte, wie wahnsinnig klug diese Frau ist. Gleichzeitig kann sie mit einem einzigen Lächeln den Raum erfüllen und die Leute um sich begeistern. Als ich sie sah, wusste ich, dass sie meine Marie ist."
Deine früheren Filme wie The Voices oder Huhn mit Pflaumen waren so ganz anders als es nun Marie Curie – Elemente des Lebens ist. Denkst du trotzdem, dass du einen eigenen Stil hast?
Ein Mensch hat nie bloß eine Seite. Und das versuche ich mit meinen Filmen einzufangen. Selbst Marie Curie ist keine perfekte Person. Sie ist smart, aber sie ist trotzdem nicht immer freundlich und macht auch Fehler. Sie ist eben ein ganz normaler Mensch. Außerdem drehe ich immer Filme, die mich im Moment ihrer Entstehung interessieren. Heute mag ich das, in fünf Jahren vielleicht das. Und dann mache ich einen Film darüber. Ich hatte nie einen Karriereplan oder so. Vielleicht gibt es so etwas wie einen visuellen Stil, weil ich bestimmte Farben oder Kameraeinstellungen sehr mag. Aber ich möchte nicht immer und immer wieder dieselbe Geschichte erzählen.
Wenn du Marie Curie ihren eigenen Film beschreiben könntest, wie würdest du das tun?
Ich glaube, das könnte ich gar nicht. Würde ich sie wirklich treffen, bekäme ich wahrscheinlich einen Herzinfarkt. (lacht)
Gäbe es etwas, was du sie fragen wollen würdest?
Ich glaube, ich würde einfach nur ihre Hand halten wollen, sie anschauen und ihr danken.
Antje Wessels