"Radioactivity/ Discovered by Madame Curie"
(Kraftwerk, aus dem Song "Radio-Aktivität", 1975)
Es ist sicherlich keine allzu kühne Behauptung, wenn man in dem Wort "Radioaktivität" einen der Begriffe erkennt, die im 20. Jahrhundert größtmögliche Strahlkraft entwickelten, bis in die Popkultur hinein. Umso erstaunlicher und aussagekräftiger für die Gesellschaft, dass es ihrer Entdeckerin und Namensgeberin in der polnischen Heimat unter russischer Herrschaft nicht erlaubt war zu studieren. Heute ist Maria Salomea Sklodowska, Jahrgang 1867, als Marie Curie untrennbar mit der Radioaktivität verknüpft. Sie hat ihr schließlich auch das eigene Leben geopfert; der permanente Umgang mit strahlendem Material war nicht eben gesundheitsfördernd. Doch Marie Curie hat viel mehr erreicht. Sie ist die einzige weibliche Wissenschaftlerin, die mehrfach mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, dazu eine von zwei überhaupt, der diese Ehre auf verschiedenen Forschungsfeldern zuteil wurde. Wäre sie noch schriftstellerisch begabt gewesen… eine Autobiografie oder die Geschichten rund um ihre bahnbrechenden Erkenntnisse hätten das Zeug zum Stoff für den Gewinn eines Literaturnobelpreises gehabt. Umso angemessener für sie und schöner für die Nachwelt, dass Regisseurin Marjane Satrapi Curies Leben so einfühlsam verfilmt hat – mit einer umwerfenden Rosamund Pike in der Hauptrolle.
Ein einzelnes Bild sagt manchmal mehr als ein ganzer Film. Und obwohl Satrapis Biopic Marie Curie – Elemente des Lebens ja alles erzählt… wir fassen zusammen: Die Geschehnisse um Curies unvergleichliche Laufbahn. Ihre erste große Liebe in Paris. Die Hochzeit mit Pierre Curie (Sam Riley). Der Tod des Gatten und Kollegen, der stets an ihrer Seit stand. Die Brandmarkung durch die Franzosen als ungeliebte Migrantin. Die Schwierigkeiten einer beruflich für damalige Zeiten außergewöhnlich ambitionierten alleinerziehenden Mutter (im Übrigen wird ihre Tochter Irene von Anya Taylor-Joy verkörpert, die als Hauptdarstellerin der Serie Das Damengambit in einem der Überraschungserfolge des Jahres mitwirkt, in dem es ebenfalls um eine ungewöhnliche Frau geht, allerdings eine, die erst noch erfunden werden musste). Sowie die späten Leistungen im Gebiet der medizinischen Anwendung ihrer Forschung – etwa durch Röntgenwagen, in denen versehrte Soldaten des Ersten Weltkriegs bereits auf den Feldern besser untersucht werden und vor Not-Amputationen geschützt werden konnten.
Was für ein Leben! Sie fiel aus dem Rahmen und trotzte den widrigsten Umständen
Also auch wenn wir dieses unfassbare Leben Curies jetzt in knapp zwei Stunden auf melodramatisch-unterhaltsame Weise nachvollziehen können, so gibt uns doch ein Foto der realen Marie Curie aus dem Jahr 1927 im Abspann noch mal einen anderen Eindruck von den Verhältnissen, unter denen sie ihren Ideen nachging. Auf besagtem Gruppenbild ist sie nämlich im Rahmen einer wissenschaftlichen Konferenz zu sehen ausschließlich umrahmt von Männern. Es grenzt an ein Wunder, dass Curie sich in dieser Männerwelt behaupten konnte, und man kommt kaum umhin, in ihrer historischen Figur, die Pike und Satrapi zum Leben erwecken, Ähnlichkeiten zu jenen Elementen zu finden, mit denen sie sich beschäftigte. Radioaktives Material wie Radium, das beständig strahlt und immense Energie entwickelt, seine Umgebung beeinflusst und für immer verändert – und zwar auch auf Grund seiner inneren Instabilität. Aber sind wir nicht alle ein bisschen instabil? Sie hat den widrigsten Umständen getrotzt, soviel steht fest.
Ihre Erkenntnisse leuchten bis heute © Studiocanal
Die Wissenschaft habe die Atome missverstanden, erklärte Marie Curie schon nach dem ersten großen Durchbruch ihrer Forschung. Ihr Zustand sei nicht letztgültig, er könne sich ändern, die Radioaktivität beweise das. Andere verwechselten Curies Entdeckung nachher mit deren Erfindung – und ihren Folgen. Doch es ist nicht ihre Schuld, dass die US-Amerikaner 1945 eine Atombombe namens "Little Boy" über Hiroshima abwarfen, oder dass man 1961 Event-Publikum zu Atombomben-Tests in die Wüste von Nevada einlud. Genauso wenig geht die Havarie des Reaktors von Tschernobyl im Jahr 1986 auf ihre Kappe. Es sind geschichtliche Begebenheiten, die der Film aufgreift, um eine gewisse Naivität zu verdeutlichen, die zwangsläufig eine Nebenwirkung wissenschaftlicher Neugier ist. Man kann nicht alles wissen. Oder ahnen.
Aber man darf sich fragen: Was würde die 1934 verstorbene Marie Curie dazu sagen, wenn sie diese Geschehnisse noch selbst miterlebt hätte oder in Satrapis Werk begutachten könnte? Sie wäre entsetzt und mächtig sauer, auch wenn der Film sicher eine Genugtuung für sie wäre. Aber Tote sprechen nicht, nicht mal in Geisterbeschwörungen, das lernen wir außerdem in Marie Curie – Elemente des Lebens. Wohingegegn die Taten derjenigen, die wahrhaft lebten, über ihren Tod hinaus für sich sprechen. Die Wissenschaftlerin Marie Curie zählt zu diesen Menschen.
WF