Es gibt Tage im Leben, die vergisst man nicht. In Jan-Ole Gersters zweitem Spielfilm Lara geht es um solch ein einschneidendes Ereignis – wichtige Stunden sowohl für die Hauptfigur Lara Jenkins als auch für deren Sohn Viktor. Und das Publikum darf sich auf einen außergewöhnlichen Film über eben diesen Tag freuen. Keinem Genre zuzuordnen und nicht nur deshalb eindrucksvoll in Erinnerung bleibend. Lara entwickelt einen besonderen Sog und Nervenkitzel. So wie damals: Vor sieben Jahren zeigte sich ein großes Publikum begeistert von den kitzeligen Alltagsabenteuern eines gewissen Niko Fischer, der bloß auf der Suche nach einer Tasse Kaffee war, aber zwischen Berliner Sonnenauf- und Sonnenuntergang in eine Menge kurioser Situationen verwickelt wurde – vom Leben aufgesogen. Jan-Ole Gersters Debüt Oh Boy mit Tom Schilling als Niko wurde gefeiert und prämiert und ist heute ein moderner Klassiker in lakonischen Schwarzweißbildern. Mit Lara wagt Gerster den nächsten Schritt – von der Stimmung her ganz anders gefärbt.
Corinna Harfouch und Jan-Ole Gerster
Da sind durchaus ein paar Parallelen zwischen den beiden Filmen zu erkennen, die nur der persönlichen Handschrift des Regisseurs geschuldet sein können. Doch abgesehen von der episodenhaften Handlung und dem Ablauf der ganzen Geschichte an einem einzigen Tag, gibt es wesentliche Unterschiede – und eine neue Qualität. Gerster schafft es diesmal, uns in die Gefühlswelt einer im Gegensatz zum smarten Luftikus Niko Fischer eher unsympathischen Figur mitzunehmen. Die Vorlage stammt hier nicht von ihm selbst, wie er beim Gespräch in Berlin erklärt, und doch schloss sich mit dem Skript ein Kreis: "Ich habe mich für das Drehbuch von Blaz Kutin entschieden, weil es in mir von der Tonalität her und in seiner Sicht auf die Welt sofort das Gefühl auslöste: ‚Das liegt mir – das hätte ich selber gerne geschrieben’. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die einen merkwürdig fremd bleibt und dennoch berührt. Ich hatte von Anfang an Corinna Harfouch für die Rolle im Kopf. Seit einem Besuch im Deutschen Theater Berlin war ich besessen von der Idee, einen Film mit ihr zu drehen. Es war Tschechows ‚Möwe’, in der sie eine narzisstisch gestörte Mutter spielt, die sich an ihrem Sohn abarbeitet. Das war jedoch lange bevor ich das Drehbuch zu Lara in die Hände bekam." Jan-Ole Gerster gerät regelrecht ins Schwärmen, als er von seiner Hauptdarstellerin spricht: "Menschenkenntnis, Erfahrung und ein unglaublicher erzählerischer Instinkt sind nur einige der Stärken von Corinna. Ihr ist es gelungen, hinter all dem vermeidlich niederträchtigen und bösen Verhalten den verletzten und einsamen Menschen sichtbar zu machen. Sie hat diese Rolle gespielt, als wolle sie sich stark machen für diese missverstandene Frau."
Ja, Lara Jenkins geht durch die Hölle. Der Film beginnt fast mit einem Sprung aus dem Fenster, ausgerechnet an ihrem 60. Geburtstag, und von da an ist die Richtung vorgegeben. Laras Ziel ist der große Konzertabend ihres Sohnes Viktor, zu dem sie offenbar nur noch sporadisch Kontakt hat. Aber wenn diese Frau sich etwas in den Kopf gesetzt hat, so ahnt man schnell, dann zieht sie es durch. Die tollpatschigen Annäherungsversuche ihres Nachbarn können sie jedenfalls nicht davon ablenken. Viktor begegnet uns zunächst auf einem Werbeplakat, bevor es in Laras Elternhaus zu einem ersten Showdown kommt. Es ist eine von mehreren unangenehmen Situationen in Lara, die mitunter ins Grotesk-Komische umschlagen. Doch an dieser Stelle gibt es nichts zu lachen. Viktor würde seiner Mutter am liebsten aus dem Weg gehen – wegen ihrer hohen Ansprüche und der spöttischen Art, in der sie die Ambitionen ihres Sohnes als Komponist kommentiert. Den Part des jungen Künstlers hat Jan-Ole Gerster mit dem alten Weggefährten Tom Schilling besetzt. Eine Entscheidung, die dem Thema Perfektionismus einen doppelten Boden verleiht: "Tom und ich sind schon seit Jahren eng befreundet. Er ist jemand, der die größte Herausforderung immer in sich selbst sucht und in der Konfrontation mit Ängsten eine künstlerische Chance sieht. Zudem ist er ein sehr ehrgeiziger Mensch. Für die Rolle als Pianist hat er so lange geübt, bis er die Revolutionsetüde von Chopin tatsächlich spielen konnte."
Corinna Harfouch und Tom Schilling
Der talentierte Viktor scheut also die Konfrontation mit Lara so lange, bis es keinen Ausweg mehr gibt. Das Schicksal und das elegante Drehbuch verjüngen sich an diesem Punkt zu einer Art Gerichtsverhandlung über Viktors Berechtigung als Künstler und damit über den Sinn seines Lebens: "Das erste Wort von Viktor im Film ist ‚Mama’ – es ist nur eine Kleinigkeit und trotzdem bringt es die Figur auf den Punkt", erklärt Gerster den Moment, um den sich alles dreht. "Er ist noch immer ein Muttersöhnchen, das sich nun endlich abnabeln will." Der Abnabelungsprozess verläuft für beide Figuren schmerzhaft. Für Lara, die die eigene Karriere am Klavier aus Angst vorm Scheitern nicht weiterverfolgte und stattdessen eine graue Existenz als Beamtin führte. Und für Viktor, der tief in seinem Herzen etwas spürt, von dem er fürchten muss, dass er es seiner Mutter niemals wird vermitteln können." Das inszenatorische Feingefühl, mit dem Jan-Ole Gerster die Charaktere in Szene setzt und zu ihrem Recht kommen lässt, erklärt er sehr bescheiden: "Mein Professor an der Filmschule sagte immer: ‚Besetzung ist die halbe Inszenierung’. Ich finde, da ist was dran. Wenn die Besetzung stimmt, ist ein großer Teil der Inszenierungsarbeit erledigt." In diesem Sinne sind Harfouch und Schilling die halbe Miete.
"Mysteriös, spannungsgeladen und nicht zu greifen – genau wie Lara."
Doch ein ebenso großer Coup ist die Verwendung der Filmmusik. Sie führt uns in das Seelenleben Laras hinein, während die strenge und gnadenlose Frau alles dafür tut, allzu forschende Blicke oder Fragen nach ihrem Befinden an der von Corinna Harfouch so grandios aufrecht erhaltenen Fassade abprallen zu lassen. Gerster erklärt die Idee dahinter: "Der Film handelt von Laras Liebe zur Musik – dem Klavierspiel im Besonderen. Trotzdem kam es mir falsch vor, einen Score zu verwenden, bei dem das Klavier das führende Instrument darstellt. Der Komponist Arash Safaian und ich haben uns schließlich für diese atonale, psychologische Musik entschieden. Mysteriös, spannungsgeladen und nicht zu greifen – genau wie Lara." Dadurch entwickelt sich der Film bei aller Eigenheit auch zu einem Thriller, der durchaus auf ein großes Finale zusteuert. Ein komplexes und virtuoses Stück als Höhepunkt, das Jan-Ole Gerster ganz gezielt ausgewählt hat und dessen plötzlich freigesetzte Energie so wuchtig und nachhaltig erscheint, wie der Tag und der Film, den es beschließt.
Hier geht es zum Interview mit Tom Schilling:
WF