Aus aktuellem Anlass kommt man einerseits mit dem Zählen gar nicht nach – gemeint ist natürlich der Auszählmarathon bei den US-Präsidentschaftswahlen, aber auch die Entwicklungen rund um den Covid-19 sind von Statistiken geprägt. Andererseits kann man ob dieser die Nachrichten bestimmenden Themen schnell mal was vergessen. So sollte hier eigentlich schon gestern, am 5. November 2020, ein Text zum 60. Geburtstag von Tilda Swinton erscheinen. Auf meinem Schreibtisch fand ich am Morgen auch zwei Post-Its, auf die ich am Abend zuvor noch "Tilda Swinton" und "60" gekritzelt hatte. Aber womöglich liegt es am makellosen Gesicht, an der viel beschworenen androgynen Schönheit Swintons, dass ich die beiden Notizen nicht mehr wirklich in Einklang bringen konnte, weshalb mir die Dringlichkeit des Anlasses schon abhanden kam, während ich mich durch das Radio auf den neuesten Stand der Dinge bringen ließ in Sachen Corona und Trump vs. Biden.
Und nun fällt mir wenigstens ein erster Satz ein, den vielleicht noch niemand geschrieben hat, der ihr gestern schon öffentlich gratulierte. Tilda Swinton geizt, wie es sich für eine gebürtige Schottin gehört. Verstehen Sie? Nein, nicht mit Geld, das könnte ich jedenfalls von meiner Warte aus schlecht beurteilen, und auch nicht mit famosen Auftritten in wunderbaren Filmen, seit sie 1986 in Derek Jarmans Caravaggio ihr Debüt feierte. Sie geizt als transparentes und doch undurchdringliches Wesen von eigener Provenienz und Klasse mit Erscheinungen des Alters. Falten? Grübchen? Runzeln? Können Sie an einer Hand abzählen.
Tilda Swinton als Eve und Tom Hiddleston als Adam © Studiocanal
Tilda Swinton war für mich schon immer die Frau, die vom Himmel fiel, angelehnt an David Bowies Rolle als Außerirdischer in Der Mann, der vom Himmel fiel. Mit Bowie verkörperte sie übrigens im Video zu dessen Song "The Stars (Are Out Tonight)" ausgerechnet ein spießiges Ehepaar. Und es gibt neben Jarman noch einige Regisseure, die sich in diese zeitlose Einzigartigkeit verliebten. Wes Anderson fällt einem ein. Luca Guadagnino, für den sie zuletzt in seinem Remake von Suspiria mit nobler Blässe glänzte wie schon zuvor als bowieeske Rocksängerin in A Bigger Splash. Und Jim Jarmusch natürlich, in dessen Broken Flowers oder The Limits Of Control sie schon herausragte – und der sie in Only Lovers Left Alive als Vampirin so sehr zu sich selbst finden ließ, wie man es vorher bei ihr im Kino noch nicht erlebt hatte. Tilda Swinton ist selbstverständlich keine Blutsaugerin, das nicht, aber sie strahlt die spröde Melancholie der Unsterblichkeit aus. Und die Sehnsucht nach einer anderen Welt.
Eine gefragte und Oscar-prämierte Schauspielerin wie Tilda Swinton lebt durch solche Charaktere wie Vampirin Eve oder viele ihrer übrigen Figuren auf eine gewisse Weise sowieso ewig. Ich möchte ihr trotzdem noch eben zum 60. Geburtstag alles Gute wünschen. Ganz irdisch. Als studierte Politikwissenschaftlerin mit einer bekannt linken Positionierung wird sie den Ehrentag – auch wenn sie ihn an der schottischen Küste verbracht haben mag – angesichts des Hollywood- und Broadway-reifen Wahlspektakels in den USA mit durchaus zwiespältigen Gefühlen erlebt haben. Zwar liebt sie das Theater. Aber dann doch eher Shakespeare als Reality Soaps. Einen Sieg Bidens wird Tilda Swinton sicherlich trotzdem als verspätetes Geschenk zum Wiegenfest akzeptieren. Darauf können Sie zählen.
WF