Vor beinahe 20 Jahre schockte Gaspar Noé das Publikum mit seinem Spielfilm Irreversible, weil er darin auch die Perspektive der Zuschauer*innen auf die Probe stellte: Wie nimmt man einen Film wahr, der mit einer ausgedehnten Szene beginnt, deren Brutalität schier unerträglich ist? Die dargestellte Vergewaltigung ist – wenn man denn angesichts der Bilder bei den üblichen Begrifflichkeiten bleiben möchte – der Höhepunkt des Films. Die dazugehörige Geschichte von Alex, die schließlich auf dem Heimweg von einer Party zum Opfer des genannten Verbrechens wird, erzählte Noé kapitelweise rückwärts. Damit betrieb Irreversible offensichtlich so etwas wie schmerzhafte Ursachenforschung und schuf ein künstlerisches Exempel für die Wirkung von abstumpfender Gewalt. Der Rest des Films glich nach dem schrecklichen Beginn einer schleichenden Erlösung, auch wenn man stets den strukturellen und individuellen Gründen für die Tat auf der Spur blieb – und weiter Zeuge blutiger Konfrontationen wurde.
Dieser "Skandal-Thriller" kommt nun in einer neuen Schnittfassung als Irreversible – Straight Cut ab Dezember noch mal ins Kino und ist auch als Home Enttertainment Release erhältlich. Die Handlung wird jetzt auf den Kopf gestellt und von vorne erzählt. Ein ziemlich genialer Schachzug Gaspar Noés. Schließlich stellt sich uns nun die Frage, ob wir bewusst einen Film sehen möchten, dessen fürchterliches Ende wir sehr wahrscheinlich schon kennen und eventuell bereits einmal aus der Position hilfloser Augenzeugen durchgestanden haben. Zweifel an der Darstellbarkeit des Gezeigten, Respekt vor der provokanten Inszenierungskunst Noés, Ehrfurcht vor der darstellerischen Leistung von Monica Bellucci und Vincent Cassel – das alles mischt sich mit der Erkenntnis, dass Zeit vieles bewirkt und manches ändert. Und dieser Film ist die Zeit wert, die man sich für ihn nimmt. Egal, in welche Richtung er läuft.
WF