"Die Kamera kann mein Gesicht filmen", sagte einst Al Pacino, dem wir hier unlängst zum 80. Geburtstag gratulieren durften, "aber erst wenn sie meine Seele einfängt, gibt es einen Film." Zu den Klassikern, in denen mehr als Pacinos zugegeben eindrucksvolle Erscheinung in Mimik und Gestik seine jeweilige Filmfigur zeichnen, weil die Perspektive unter die Oberfläche einer reinen schauspielerischen Leistung führt, zählt zweifelsohne Sidney Lumets Thriller Serpico (1973). Wenn man die Geschichte des New Yorker Cops aus schlichten Verhältnissen verdaut hat, der mit ureigenem Verständnis sozialer Polizeiarbeit nicht nur gegen Wände sondern vielleicht gar in eine beinahe tödliche Falle, zumindest aber in eine ihn lebensgefährlich verletzende Kugel läuft, dann ist man reif für die wahren Begebenheiten, die im Bonusmaterial lauern.
Begebenheiten ist wohl nicht ganz das richtige Wort, auch wenn Lumets Serpico definitiv auf Tatsachen beruht. Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms Frank Serpico von Antonino D’Ambrosio steht jener echte Kämpfer gegen die Korruption, dem Al Pacino mit seiner kongenialen Darstellung nicht eben half, die innere Ruhe zu finden. Man muss es sich so vorstellen: Der im Künstlerviertel Greenwich Village lebende Serpico wollte damals nichts anderes, als jenes Recht auf der Straße durchsetzen, für das sich manch eine/r seiner Kolleg*innen selbst hielt – oder sich zumindest wie die Gangster darüber hinwegsetzte. Das hieß auch, dass er keine Bestechungsgelder annahm. Allein diese moralische Standfestigkeit machte ihn im Moloch New York Citys um 1970 zu einem Außenseiter. Dazu nutzten Serpicos Vorgesetzte seine Individualität und seinen Hang zur Theatralik schamlos aus, schickten ihn auf heikle Undercover-Einsätze – und letztlich fast in den sicheren Tod.
Serpicos gegenkultureller Charme war keine Erfindung © Studiocanal
Der Dokumentarfilm entstand 2017, inzwischen lebt Frank Serpico in einer recht komfortablen Hütte im Wald. Keine Angst, er ist kein UNA-Bomber, auch wenn ihn einige Dinge in der Gesellschaft mächtig ankotzen. Es ist natürlich vor allem Serpicos Vergangenheit, die ihn noch immer bewegt, und die er seit einem spektakulären Auftritt vor Gericht 1972 und der Verfilmung seiner bald darauf als Buch erschienenen Erlebnisse in aller Öffentlichkeit mit sich herum trägt. Immer wieder in den letzten Jahrzehnten versuchte er sich in TV-Shows als Mahner in Sachen Niedergang der US-amerikanischen Polizei. Wer nur aus der Entfernung mitbekommt, wie viele rassistische Vergehen sich weiße Cops dort erlauben, wird schon deswegen in Serpico einen Verfechter der gerechten Sache sehen. Doch die knapp 100 atemberaubenden Minuten Frank Serpico zeigen nicht nur einen unbeugsamen Mann, der auf ein wahrlich abenteuerliches Leben zurückblicken kann – zwar nicht vollkommen ohne bitteren Beigeschmack aber doch ohne die absolute Verbitterung –, sie zeigen auch einen Gerechtigkeitsfanatiker, der weiter mit dem Ruf des Verräters leben muss.
Nun, viel Feind, viel Ehr’ heißt es, und zahlreiche Weggefährten sowie Bewunderer zollen ihm gebührenden Respekt. Aber richtig spannend wird es in der Doku auch, wo es um die berühmte, ja legendäre Filmadaption geht. Pacinos Performance, seine Serpico-Werdung – sie war für den tapferen »Paco«, wie Frank Serpicos engere Bekannten ihn nannten, eine echte Bürde. Fortan war er der Typ aus dem Gerichtssaal, der Typ aus dem Buch, der Typ aus dem Kino, in dessen Charakter Sidney Lumets Regie außer in die Seele Al Pacinos eben auch tief blicken ließ. Frank Serpico war viele Persönlichkeiten auf einmal und doch ziemlich alleingelassen. Auf den Film hatte er schließlich wenig Einfluss. Nachdem er während der Aufnahme einer frei erfundenen Szene plötzlich "Schnitt" rief, war er bei den restlichen Dreharbeiten explizit unerwünscht. Der Kopfschuss, den Frank Serpico im Einsatz wie durch ein Wunder überlebte, ist jedoch nicht nur der Hollywood-taugliche Höhepunkt der Lumet-Dramaturgie, er bleibt der Knackpunkt seiner tatsächlichen Story. Die Schuldfrage ist bis heute nicht wirklich geklärt, auch im Gespräch mit einem damals beteiligten Kollegen, gibt es keine Auflösung, nur die Verfestigung des bösen Verdachts, der Polizeiapparat habe ihn Kriminellen ans Messer liefern oder womöglich selbst zum Schweigen bringen wollen. Frank Serpicos Umgang mit dieser Ungewissheit ist faszinierend. Sie nagt, und doch bleibt er cool. Aber wenn Sie einer fragt, wer der wahre Serpico sei, sagen Sie, es ist vermutlich Paco, dem Jahre nach dem Treffer in den Kopf ein realer Splitter der Munition aus dem Ohr gefallen ist. Selbst wenn Al Pacino ihm bis in alle Ewigkeit seine eigene Aura verliehen hat. Es gibt halt nicht nur eine Wahrheit.
WF