Wer ein grandioses Ensemble wie Isabelle Adjani (als Zorah), Maïwenn Le Besco (als Nohra) und Rachida Brakni (als Djamila) als die drei titelgebenden Schwestern versammelt hat, braucht manchmal nicht viele Worte, um in einer kurzen Szene die komplette Dramatik und all die in der Vergangenheit geschlagenen Wunden anzudeuten. Gleich zu Beginn von Schwestern treffen die Drei bei ihrer Mutter aufeinander. Die toughe Nohra hat wieder einmal einen Job verloren, weil sie ihrem Chef Widerworte gab und muss bei der Mutter Leila (Fettouma Bouamar) unterkommen. Dort warten schon die älteste Schwester Zorah, eine Theaterregisseurin, und die Politikerin Djamila. Nach nur wenigen Sätzen wird klar, was fehlt: Harmonie, eine Verarbeitung der Traumata, die diese Frauen erleben mussten. Und auch: der Vater und der Bruder der drei. Die Familie hat algerische Wurzeln. Leila und ihr Mann lernten sich im algerischen Bürgerkrieg im Widerstand kennen und flüchteten mit der Familie nach Frankreich. Dort wurde aus dem einst liebenden Vater ein brutaler, ultrakonservativer Tyrann, der auch vor körperlicher Gewalt keinen Halt macht. Er verabscheut das freie Leben in Frankreich. Einmal brüllt er: "Man wird versuchen, kleine Französinnen aus euch zu machen." Leila trennt sich schließlich von ihm, der Vater reist zurück nach Algerien und entführt den zweijährigen Bruder Rheda und seine jüngste Tochter. Die älteste Schwester Zorah schafft es später, ihre Schwester zurück nach Frankreich zu holen. Rheda zu retten schafft sie nicht. Der Vater gibt den Jungen in eine Pflegefamilie und verrät keine Details. So bleibt Rheda als reale Person verschollen und wird zugleich Projektionsfläche für den Schmerz der Familie.
Aus diesem aufgeladenen Stoff macht die franko-algerische Regisseurin Yamina Benguigui ein clever verwobenes, dramatisches Filmstück. Als Zorah nämlich beginnt, die Geschichte der Familie als Theaterstück zu inszenieren, mit ihrer Tochter und ihrer Nichte in wichtigen Rollen, zerbricht der nur oberflächliche Frieden innerhalb der Familie. Die Schwestern und die Mutter erfahren erst inmitten der Proben davon, Zorah selbst hadert damit, was sie eigentlich wie erzählen will. Alle sehen vom Trauma der Vergangenheit ihr Leben im Jetzt bedroht. Yamina Benguigui nutzt diese Proben immer wieder, um mit Rückblicken in die dramatische Zeit im algerischen Bürgerkrieg zu springen, in der auch und vor allem viele Frauen litten und kämpften. Mutter Leila sagt an einer Stelle zu ihrer Enkelin, die sie im Stück spielen soll: "Wir hatten keine Röcke. Wir hatten Kampfanzüge." Und sie sagt: "Wir kämpften Seite an Seite mit Männern. Aber wir waren Frauen."
Das Theaterstück kanalisiert nun all die Verwerfungen und die Schmerzen, die seit Jahren in der Familie verdrängt wurde. Als der Vater der Schwestern in Algiers vom Theaterstück seiner Tochter, in dem er eine unrühmliche Rolle spielen wird, erfährt, erleidet er einen Schlaganfall. Leila, die Mutter der Schwestern, will Zorah dort hinschicken und hofft darauf, dass ihr Ex-Mann im Krankenhaus verrät, wo er den einzigen Sohn der Familia, Rheda, versteckt hat. So brechen Zorah, Nohra und Djamila gemeinsam nach Algerien auf – und taumeln zwischen Eskalation, Hoffnung und Verzeihen.
"„Wir hatten keine Röcke. Wir hatten Kampfanzüge.“ Farah (Hafsia Herzi) als 22-jährige Mutter Leila © � Studiocanal GmbH / Marcel Hartmann
Yamina Benguigui erzählt die komplexe Geschichte mit ruhiger Hand und großem Vertrauen in ihre Schauspielerinnen. Man spürt ihre Ambition und die biografische Verbindung zum Thema – und dennoch verhebt sie sich niemals bei ihrem Vorhaben. Vor allem die drei Schwestern sind in ihrer Unterschiedlichkeit faszinierende Charaktere, denen man ebenso gerne beim Streiten wie beim Versöhnen zuschaut. Dabei braucht es manchmal gar nicht vieler Worte: Wenn sie in Algiers ankommen und widerwillig zum Krankenhaus laufen, steckt allein in ihrem Gang und in ihren Blicken mehr als andere in komplexen Dialogen vermitteln könnten. Als Kontrast dazu inszeniert Benguigui wenige Minuten später ein furioses Streit- und Schreiduell zwischen den Dreien, das in einem Fahrstuhl explodiert.
Yamina Benguigui sagte schon vor Jahren in einem Interview, dass Kultur noch immer der beste Weg ist um Gespräche über komplexe, politische Themen zu eröffnen, gerade aus Sicht einer Immigrations-Biografie. "Für mich ist die Bedeutung des Kinos dabei fundamental, weil diese Bilder die interkulturellen Dialoge beeinflussen können. Heutzutage werden viele dieser Filme sogar von französischen Ministerien genutzt oder im Unterricht gezeigt." Auch Schwestern – Eine Familiengeschichte von Yamina Benguigui sollte diese Behandlung erfahren, auch und gerade weil er kein pädagogisches Erklärkino sondern ein bewegendes, perfekt gespieltes Drama ist, das wohl niemanden kalt lassen dürfte.
DK