"Was hast du gemacht? Scheiße! Was hast du gemacht?" Das sind die ersten Worte, die in Amores Perros gesprochen, ach was, geschrien werden. Iñárritu jagt schon von der ersten Sekunde an den Puls hoch, wirft uns in einen Verfolgungsjagd, die mit jenem Crash enden wird, um den die drei episodenhaften Teile seines Filmes kreisen werden. Jorge ist es, der sie seinem Kumpel Octavio – gespielt von Gael García Bernal – ins Gesicht schleudert, während er versucht, die Blutungen an Octavios Hund Cofi zu stillen. Die Kamera schlittert, die Autos schlittern, die Protagonisten fluchen, der Hund blutet. Ein Filmbeginn, wie eine Ansage – die er am Ende auch einlöst. Denn Amores Perros bleibt so aufwühlend, wie er beginnt, obwohl er zwischendurch das Tempo, die Chronologie und sogar die Ästhetik wechselt.
Es passiert nicht oft, dass einem gut 18 Jahre später wieder einfällt, wie man sich gefühlt hat, als man nach einem bestimmten Film aus dem Kino gekommen ist. Dem Autor dieser Zeilen ist genau das mit Amores Perros passiert. Bei jedem weiteren Durchgang – es dürften mittlerweile 13 sein - ist sie wieder da. Diese Begeisterung. Diese Verwirrung, Liebe und Schönheit in einem Strudel der Gewalt gesehen zu haben. Dieser Ärger ob der Ungerechtigkeit, die den Protagonisten widerfahren ist. Diese Unruhe, die der nur vordergründig schlingernde Stil auslöst, der einen auch nach dem Abspann nicht loslässt. Wäre man 2001 gleich nach der ersten Begegnung mit Amores Perros in Alejandro González Iñárritu gelaufen, man hätte ihn an der Lederjacke gepackt, die er damals oft getragen hat, ihn geschüttelt und ins Gesicht gegiftet: "Scheiße, Alejandro! Was hast du gemacht?" Klingt übertrieben? Nicht, wenn man einmal erlebt hat, wie einem dieser Film mit blutigen Händen ans Herz greift.
Man kann aber auch davon ausgehen, dass Iñárritu eine eloquente Antwort parat gehabt hätte. Denn der 1963 in Mexiko-Stadt geborene Iñárritu war nur formal ein Debütant. Er wusste von Anfang an, was er tat, und hatte das Selbstbewusstsein und die Rhetorik, seine Intention auf den Punkt zu bringen. In einer "Behind the Scenes"-Dokumentation des Verleihs, die während der Dreharbeiten entstand, gab er die Stoßrichtung für Amores Perros vor: "Es ist ein Film mit sehr viel Tiefgang. Er geht an die Nieren. Er trifft einen ins Herz. Er geht unter die Haut und erschüttert einen bis aufs Mark. Er ist nicht nur sentimental. Er geht an die Eingeweide. Der Film schlägt auf die Leber und auf den Magen." Man muss zwangsläufig wieder an die Anfangsszene denken, zum Beispiel an die Nahaufnahme, als Jorge dem blutenden Kofi beide Hände auf das Fell legt und das Blut durch das schimmernde Fell suppt – genau SO, wie die Hände auf der Wunde, fühlt sich Amores Perros an.
© (C) Amores Perros / 2000 Altavista Films S.A. de C.V. / Z Film S.A. de C.V.,Mexico. All Rights Reserved.
Aber woher kommt dieses nicht nur filmische Selbstbewusstsein Iñárritus? Einen ersten Hinweis gibt ein Blick auf sein Leben, als er 1999 Amores Perros produzierte und dabei Regie führte. Iñárritu war in seinem Heimatland und vor allem in seiner Heimatstadt Mexiko-Stadt kein Unbekannter. Seit 1984, unmittelbar nach seinem Studium an der Universidad Iberoamericana, war Iñárritu Host, DJ und Feature-Produzent bei Mexicos größtem Rock-Radiosender WFM. Musik war schon immer eine seiner größten Leidenschaften und Iñárritu sagte noch 2016 in einem Portrait des Rolling Stone, kurz vor seinem zweiten Regie-Oscar, er fühle sich eher wie ein "gescheiteter Musiker" als wie ein gefeierter Regisseur. Und trotzdem zog es Iñárritu über die Musik und über den Drang, Geschichten erzählen zu wollen, langsam in Richtung Film. Bei WFM schrieb er kleine Audio-Stories, die weit über eine bloße Moderation hinausgingen und galt schon bald als jemand, der junge Kolleginnen und Kollegen motivierte, die Erzählformen des Radios neu zu denken. Von 1987 bis 1989 widmete sich Iñárritu der Filmmusik und komponierte für einige mexikanische TV-Produktionen den Filmscore.
In dieser Zeit traf er den Literaten und Drehbuchautoren Guillermo Arriaga, der später das Drehbuch zu Amores Perros, 21 Gramm und Babel für Iñárritu schreiben sollte. In den frühen Neunzigern wagte Iñárritu schließlich den Schritt in die Filmproduktion. Als Mitbegründer von Z Films produzierte und schrieb er diverse Werbefilme, bei denen er auch Regie führte, und machte schließlich seinen ersten Kurzfilm für das mexikanische Fernsehen: Detrás del dinero, übersetzt "Hinter dem Geld" mit Miguel Bosé.
Kurz gesagt: Iñárritu hatte sein Handwerk lange Jahre geübt, als er sich an die Umsetzung von Amores Perros herantraute. Auch sonst überließ er bei den Punkten, auf die er Einfluss hatte, wenig dem Zufall: Allein am Drehbuch feilten Guillermo Arriaga und Alejandro González Iñárritu drei Jahre lang. Verfilmt wurde schließlich die 36. Fassung. Wenn man all das weiß, wundert es nicht, dass einige Kritiker – zum Beispiel jener der Neuen Zürcher Zeitung – damals schrieben: "Es erscheint geradezu unglaublich, dass ein dermaßen ausgefeiltes und komplexes Werk, das wie ein erratischer Block aus der gegenwärtigen lateinamerikanischen Filmlandschaft ragt, ein Erstling ist."
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Alejandro González Iñárritu hat mit Amores Perros eine Art des Erzählens gewählt, die auch seine weiteren Filme 21 Gramm und später Babel prägen sollten. Hier ist der Einfluss von Autor Guillermo Arriaga nicht zu unterschätzen. Iñárritu erinnert sich an den Moment, als er dessen Drehbuch zum ersten Mal las, so: "Schon der erste Entwurf bewegte und verstörte mich. Ich sah die Charaktere vor meinen Augen, ich fühlte, was sie fühlten. Ihre Geschichten hatten für mich etwas zutiefst Menschliches. Es war, als wären sie aus dem Papier heraus- und in mein Leben hineingetreten und ich sah ihnen beim Leiden zu." Dem Magazin Indiewire erzählte Iñárritu in der Premierenwoche über die Arbeit mit Arriaga: "In den drei Jahren, die wir am Skript arbeiteten gab es viele Änderungen. Erst die 36. Version passte. Es war wie ein Dominoeffekt: Jede kleine Änderung zieht andere mit sich. Wir hatten viele Meetings, in denen ich meine Bedürfnisse und meine Ansichten teilen konnte. Ich schätze mich sehr glücklich, über dieses Arbeitsverhältnis mit ihm. Ich habe Arriaga später beim Castingprozess involviert: Wir waren ein gutes Team."
Die Charaktere geben diesem wilden Ritt namens Amores Perros einen wichtigen Teil seiner Struktur – und mit dem ständigen Duell zwischen dem Instinkt des Regisseurs und dem Konstrukt des Autors machen sie einen großen Teil seiner inneren Spannung aus. Iñárritu und Arriaga unterteilen ihren Film dabei zunächst in drei Kapitel, die die Namen der Charaktere tragen, die sie prägen. In "Octavio und Susana" begibt sich der jugendliche Octavio mit seinem Hund Cofi in die brutale Welt der Hundekämpfe, um mit dem dort gewonnenen Geld Susana, der Freundin seines übergriffigen, kleinkriminellen Bruders einen Ausweg zu bieten. In "Daniel und Valeria" sehen wir, wie sich das neugefundene Glück des wohlhabenden Geschäftsmannes Daniel mit seiner Affäre Valeria – einem berühmten Model – durch die Auswirkungen des Autounfalls von Octavio auf geradezu sadistische Weise in einen Alptraum verwandelt. In "El Chivo und Maru" folgen wir schließlich El Chivo, einem ehemaligen Söldner und Revolutionär, der sich inzwischen als Gelegenheitsdieb und Auftragsmörder verdingt – sich zugleich aber rührend um Straßenhunde kümmert und versucht, wieder mit seiner Tochter Maru in Kontakt zu treten, die er damals verließ, um sich der Revolution anzuschließen.
Dass sich Amores Perros trotzdem nicht wie eine Miniserie anfühlt, ist Iñárritus Instinkt zu verdanken, die einzelnen Stories galant zu verweben. "Die drei Episoden waren an sich alle toll, aber wenn wir sie einzeln erzählt hätten, wären sie eben drei Kurzfilme geworden – und mehr nicht." So streifen die Charaktere immer mal wieder durch die Episoden der anderen, manchmal auf eine eher subtile Weise, in den Szenen um den Autounfall herum jedoch als klar erkennbare Stützen des metaphorischen Storybogens. Zudem beschloss Iñárritu die Chronologie aufzubrechen, das Tempo geradezu gnadenlos zu be- oder entschleunigen, für die zweite Episode, die überwiegend in der High Society spielt, die Kameraästhetik zu ändern und seinem Publikum zuzutrauen, dass es die schon im Filmtitel pointierte Metaphorik als verbindendes Element erkennt und akzeptiert. Das funktioniert im spanischen Originaltitel natürlich am besten: "Amores" steht für Liebe und "Perros" heißt im Spanischen "Hunde", wird aber auch umgangssprachlich für "Leiden" oder "Schmerz" benutzt. Iñárritu sagt dazu: "Der Film zeigt, dass Schmerz universell ist. Alle leiden gleichermaßen. Arm wie reich, der Kommunist wie der Kapitalist, der Yuppie wie der Ungebildete, der König wie der Sklave." Und die Hunde hat er nicht nur gewählt, weil sie das Straßenbild in Mexiko-Stadt prägen, sondern auch weil er glaubt, dass Hunde in ihrer Natur dem Menschen am nächsten sind: "Sie können loyal, treu, lieb und gütig sein – und gleichzeitig töten, wenn sie sich bedroht fühlen. Eigentlich sind unsere animalischen Instinkte viel grausamer als ihre, weil wir Menschen aus Habgier oder für Geld und Macht töten, während Hunde es nur tun, um zu überleben."
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Die brutalen Hundekämpfe sorgten ironischerweise für den größten Aufschrei, obwohl Amores Perros auch bei der Darstellung der Gewalt zwischen Menschen nicht gerade zimperlich ist. Alejandro González Iñárritu musste oft und unablässig versichern, dass keine Tiere zu Schaden gekommen sind. "Die Hundekämpfe sind in Mexiko eine brutale Realität. Wir waren im Film aber mehr an den Beziehungen zwischen den Menschen und ihren Hunden interessiert: Was meinen Charakteren widerfährt, passiert auch ihren Hunden." Zu den Vorwürfen diverser Tierschutzorganisationen sagte er: "Die Illusion von Gewalt zwischen den Tieren wurde durch das Filmen und den Schnitt erzeugt, auf die gleiche Weise, wie wir bei dem Autounfall Sorge getragen haben, dass keine Menschen verletzt werden. Die Hunde tragen Beißschutz, was man sogar sehen kann, wenn man die Bilder einfriert und vergrößert. Die Hunde, die tot wirken, wurden geschminkt und für maximal 20 Minuten betäubt. Der Hundetrainer ist in Tierschutzkreisen ein respektierter Mann und hat für Amores Perros mit seinen eigenen Tieren gearbeitet – man kann also sicher sein, dass er sie gut behandeln hat."
Trotzdem versteht Iñárritu die Reaktion, sich zuerst um die Hunde zu sorgen. Sie ist für ihn zutiefst menschlich, obwohl sie ihm auch Angst mache: "Wir scheinen uns mehr um die Tiere als um die Menschen zu sorgen. Wir sehen einen Obdachlosen mit einem verwitterten Hund auf der Straße und unsere Sympathien gelten zuerst dem Hund. Ist das nicht furchtbar? El Chivo macht es in meinem Film genauso: Er rettet Octavios Hund und nicht Octavio." Und trotzdem, oder gerade deswegen sind die Tiere das kläffende, knurrende Herz des Filmes.
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Kurz nachdem Amores Perros seinen Siegeszug angetreten hat, ließ Iñárritu Mexiko-Stadt hinter sich, um sein Glück in Los Angeles zu versuchen. Die einzigartige Stimmung des Filmes wird auch geprägt durch die Art und Weise wie Iñárritu und sein Kameramann Rodrigo Prieto diese wilde Stadt mit über acht Millionen Einwohnern einfangen. Mexiko-Stadt wirkt übervoll, vibrierend, gefährlich, flirrend, bedrohlich – und trotzdem blitzt immer wieder eine fast wehmütige Liebe auf. Deshalb sollte man zum Abschluss dieser Beobachtung noch einmal auf diese außergewöhnliche Darstellerin blicken – und auf Iñárritus Beziehung zu ihr. In Interview mit "Indiewire" sagte er im Frühjahr 2001 über seine Heimatstadt: "Es ist mittlerweile furchteinflößend dort. Eine sehr angespannte Stimmung. Wenn du Essen gehst, weißt du nicht, ob du lebend zurückkommen wirst. Manchmal fühlt es sich an wie ein Bürgerkrieg. Es ist verrückt. Einfach Verrückt. Und das Traurige ist, dass sich das erst in den letzten Jahren so extrem entwickelt hat. Seitdem viele Drogenhändler aus Kolumbien ins Geschäft eingestiegen sind, ist hier alles und Jeder korrupt – am schlimmsten sind die Polizisten. Mein Tipp, wenn du nachts einem Polizisten begegnest: Lauf!"
Es ist kein Zufall, dass sich die von ihm beschriebene Stimmung auch in Amores Perros findet – sie war mehr als einmal am Set spürbar. Iñárritu erinnert sich im selben Interview an einen brenzligen Vorfall: "Als wir die Location gescoutet haben, in der wir die Auseinandersetzung nach dem letzten Hundekampf filmen wollten, wurden wir angegriffen und festgehalten. Das waren 14- oder 15-jährige Jungs, die mich und die gesamte Crew auf den Boden zwangen und uns unsere Sachen abnahmen. Ich wollte aber unbedingt dort drehen. Die Polizei rufen ging nicht, weil die Jungs dann erst die Bullen und dann uns erschossen hätten. Außerdem ist er ihr Viertel, du musst mit ihnen verhandeln. Ich ging also wieder hin, mit der Sicherheitsfirma, die uns die Produktionsfirma gestellt hat. Das waren Typen, die mit den Jungs reden konnten. Es stellte sich raus, dass sie gar nicht auf Geld aus waren. Sie wollten nur gefragt werden. Am Ende wurden sie an den Drehtagen in ihrem Viertel unsere Security und alles war in Ordnung."
Eine gefährliche, brutale, schöne Geschichte – die am Ende vielleicht auch die Essenz von Amores Perros ausmacht. Nicht zuletzt, weil sie klingt, als hätte mit all ihrer Ambivalenz auch jederzeit im Film passieren können.
DK