Wir lagen so herum in der zweiten Hälfte der 90er. Wir waren zu dritt. Ziemlich besoffen. Vielleicht hatte jemand gekifft. Irgendwo im Dorf lief eine Party. Wir brauchten eine Pause. Landeten im Zimmer meiner besten Freundin. Ein Kellerraum. Schwarze Wände, beklebt mit Nirvana-Postern, selbst gemalten Bildern, den Tickets der ersten Konzerte. Zwei von uns lagen auf dem Bett, einer auf dem Sofa. Ein Schwebezustand. Reden, lachen, wegnicken – und zuhören. Wir hatten uns für einen Film statt einer CD entschieden. Eine bespielte VHS-Kassette, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Darauf: Clerks – Die Ladenhüter. Aufgenommen im Nachtprogramm von ARD oder ZDF.
Eine vertraute Wortflut, in die man hineinsprang und auftauchte, hinein sprang und auftauchte. Plötzlich - wir wissen nicht mehr, ob bei den "37 Schwänzen", beim Ausfruf "Sie hatte Sex mit einem Toten!" oder bei den Philosophien über die Subunternehmer, die bei Star Wars ihr Leben lassen mussten, bloß weil sie als Klempner oder Ingenieur auf dem Todesstern angeheuert hatten – plötzlich jedenfalls ging es los: Ein Lachen, vom Sofa kommend. Irre, unaufhaltsam, wenig rational, vermutlich eine Rauschreaktion. Es war ansteckend, wir alle machten mit, sprachen die Zeilen aus dem Röhrenfernseher nach, lachten, rollten uns herum – und dann: Fiel einer vom Sofa und wir lachten uns wacher und wacher …
Wenn wir uns an die Filme unserer Jugend erinnern, tun wir das immer mit einem wir. Das müssen wir so machen. Seit Florian Illies damals die "Generation Golf" ausgerufen hat (und natürlich die 80er meinte), sind wir darin gefangen, der gleichen Selbstbesoffenheit zu erliegen und ein "Ich" als "Wir" zu denken und gleich für eine, pardon, unsere Generation zu sprechen. Aber hier stimmt es: Wir sind ein "Wir". Wir sind immer noch eine Clique, die sich mit Zitaten aus Pulp Fiction bei Laune halten kann und in Paris schon mal einen "Big Macke" bestellt hat. Wir wissen dank Clerks und nicht dank Bio, was "Snowballing" ist und dass, so sagt’s Reality Bites, uns irgendwann ein drittes Auge wächst, weil wir immer zu viel Süßstoff genommen haben.
Wir sagten – nicht im Einkaufszentrum unter Mallrats, sondern beim Edeka am Ende der Straße – sicher schon mal über unseren notgeilen Kumpel: "Der Typ besteht nur aus Testosteron. Der ist ein wandelnder Ständer auf der Suche nach ner Möse." Wir haben nach langen, angetrunkenen Laberabenden nur zu gerne einen auf Reservoir Dogs gemacht und geklagt: "Ihr zwingt mich, soviel zu sprechen, dass ich kaum noch reden kann!"
Wir denken in Berlin noch immer manchmal daran, wie Blue In The Face in einem Berliner Späti klingen und aussehen würde, und dass man in diesem Satz nur die Stadt tauschen müsste: "I don't know anyone in New York who doesn't say 'I'm leaving'. I've been thinking of leaving New York for... uh... thirty-five years now." Und wir verfielen peinlicherweise ins Mansplaining, als eine Freundin sagte "Ich hasse es, wenn wildfremde Männer mir auf der Straße sagen, ich soll lächeln, nur dass es ihnen besser geht in ihrem beschissenen Leben" – und wir anmerkten, dass sie soeben Before Sunrise zitiert hatte. Wir hatten zum Glück erst dann eine lesbische Bekannte, als wir wussten, dass man diese Zeile aus Chasing Amy ruhig strunzdumm finden kann: "Wenn du so auf Frauen stehst, müsstest du doch eigentlich die ganze Zeit nackt vor dem Spiegel stehn."
Manchmal vermissen wir das Gelaber der 90er. Wir wissen zwar, dass wir es verklären. Dass Kevin Smith manchmal wie ein pubertärer Chauvi schreibt. Dass Zitate aus Before Sunrise heute unter den Instagram-Fotos aalglatter Influencer auftauchen und plötzlich wie lahme Kalendersprüche klingen. Dass Tarantinos Themenspektrum in keinem Verhältnis zur Anzahl der Wörter in seinen Drehbüchern steht. Dass Paul Auster schon immer ein intellektueller Schwallerkopp war.
Und trotzdem: Wir vermissen dieses Gelaber. Weil es eben im Kern mehr war, als das G-Wort vermuten lässt. Es waren pointierte, entweder von charismatischen Köpfen improvisierte oder mit viel Liebe zum Detail getextete Wortmassen. Es war ein Gespür für Irrsinn, für Nerdwissen, für Timing, für Slang. Es war nicht nur Mundwerk, sondern auch Handwerk. Etwas, dass wir heute – nicht immer, aber oft – schmerzlich vermissen.
Wenn wir mal wieder einen Podcast hören, bei dem die Redenden vergessen, dass man bei all dem Gelaber auch etwas zu sagen haben sollte. Wenn wir mal wieder ein zehnstündige Serie bingen und in jeder zweiten Szene dem Autorenteam links und rechts eine kleben wollen, weil jeder Dialog klingt, als habe man einen Drehbuchgenerator angeworfen. Wenn wir mal wieder einen Kinofilm sehen, bei dem das gesprochene Wort lediglich nur Teil einer klapprigen Brücke zur nächsten Action-Szene ist.
Im Herbst werden Jay und Silent Bob, natürlich unter Regie von Kevin Smith, in einem Kinofilm ihr eigenes Reboot verhindern. Wir wissen schon jetzt, dass das niemals wieder so auf uns wirken wird wie "damals", als wir den beiden zum ersten Mal vor der Tür eines "Quick-Stop"-Shops in New Jersey begegneten. Aber wir werden den Film natürlich anschauen. Danach was trinken gehen. Vielleicht was kiffen. Und dann wieder: Labern. Über die 90er.
DK