Es ist ein Paradox des Krimis, dass er zugleich Leser*innen oder Zuschauer*innen in Hochspannung halten will – dabei aber immer wieder Handlungs-Standards bedient, Charakter-Stereotypen in die Geschichte schubst und die Erwartungen eines Publikums erfüllt, das sehr oft sehr konventionelle Vorstellungen einer Geschichte hat. Gegen einen gut gemachten Standard-Krimi, sei er in Buchform oder ein Film, ist dabei ja auch gar nichts einzuwenden – künstlerisch wertvoll oder psychologisch reizvoll wird es jedoch meist nur dann, wenn jemand die Regeln zu brechen weiß, oder eigentlich altbekannte Motive auf besondere Weise erzählt. Das sieht auch der Regisseur dieses meisterhaften Film-Noir-Krimis so – und beschloss sich für letztgenannte Variante zu entscheiden.
In einem langen Interview in der 25. Ausgabe des Magazins "Les Cahiers de la Cinematheque", das als Themenschwerpunkt den „Le film policier“ hatte, sagte Jean-Pierre Melville über seinen Film Vier im Roten Kreis, bei dem er auch das Drehbuch schrieb: "Ich habe mich dazu gezwungen, einen Film zu machen, der zu Beginn und am Ende einige absolut konventionelle Situationen beinhaltet. Und ich habe einen Film gemacht, der allen gefallen hat: den Cinephilen; den Intellektuellen, und damit der Randgruppe der Zuschauer, die am schwersten zu überzeugen ist; außerdem dieser anderen Randgruppe, die ich nicht so mag, den Snobs; und auch der anderen wirklich bürgerlichen Randgruppe, die der großen Masse angehört, aber die aus Liebe zum Kino alles versteht. Diese drei Randgruppen machen nur 22% der Zuschauer aus. Bleiben 78%, die nichts verstehen und denen man einen beschränkten Plot liefern muss. Daran habe ich gedacht, als ich mein Drehbuch geschrieben habe." Die Rechnung ging auf: Vier im Roten Kreis landete 1970 in den Top 10 der kommerziell erfolgreichsten Filme Frankreichs auf Platz 5.
Mattei auf Verfolgungsjagd. © Arthaus / Studiocanal
Zwei Dinge seien für den künstlerischen und kommerziellen Erfolg unerlässlich, so Melville: "Erstens die Bearbeitung der Geschichte, die viel wichtiger ist als die Geschichte selbst." Und die Geschichte zu Vier im Roten Kreis ist tatsächlich schnell erzählt: Ein frisch entlassener Profi-Dieb (Corey, gespielt von Alain Delon), trifft durch Zufall auf den frisch entflohenen Häftling Vogel (Gian Maria Volonté), gewinnt diesen für einen Juwelenraub, bei dem auch der mit Vogel bekannte Ex-Cop Jansen (Yves Montand) hilft. Verfolgt werden sie von Kommissar Mattei (André Bourvil), dem Vogel am Anfang des Films bei einem Gefangenentransport in einem Linienzug entkommt. Diese vier Männer finden sich im titelgebenden Roten Kreis – eine durch viele Zufälle gebildete Schicksalsgemeinschaft, die in einem angeblichen buddhistischen, in Wirklichkeit von Melville erfunden Zitat beschrieben wird.
Vogel frei. © Arthaus / Studiocanal
Was den Film so besonders macht, ist die Art, wie Melville all jene von ihm so benannten "konventionelle Situationen" eines Krimis erzählt. Sei es die Verfolgungsjagd Vogels mit einem Großaufgebot der Polizei. Seien es die ersten kriminellen Handlungen von Corey nach seiner Entlassung. Sei es Jansens Drogen-Vergangenheit, die in einer einzigen, intensiven, surrealen Szene perfekt eingefangen wird. Sei es die Polizeiarbeit Matteis, die oft dem Geschacher, Geraune und Geschiebe jener Kriminellen ähnelt, die er zur Strecke bringen will. Und sei es – natürlich – der perfekt abgefilmte Juwelenraub, eine der wortkargsten und intensivsten Szenen in der Geschichte des Kriminalfilms. Die Art, wie Melville und sein Kameramann Henri Decaë hier mit kühlem, genauen Blick diese Menschen bei ihrer "Arbeit" zeigen, ist unvergleichlich. Allein die zwei Minuten, in denen man sieht, wie Corey und Vogel behutsam eine Fensterscheibe des Juweliers aufschneiden, hat mehr Reiz als so mancher Tatort. Melville selbst wusste dabei übrigens um die Qualität seiner Arbeit. Im Interview sagt er: "Heute könnte ich einen schlechten Kriminalroman nehmen und einen guten Film daraus machen. Wenn ich müsste, würde ich das machen, um mir zu beweisen, dass ich Recht habe."
Die zweite wichtige Sache, bei dem Vorhaben einen "Heist" auf das Krimi-Genre zu machen und ihm das Schablonenhafte zu rauben, sei für Melville folgende: "Zweitens muss man die Zuschauer dazu animieren, gut zu spielen. Fälschlicherweise hängt das nicht davon ab, ob sie Stars sind. Man braucht gute Schauspieler mit einer guten äußeren Erscheinung; man muss sie lenken und ihnen beinahe eine Ethik vorschreiben. Wenigstens ihre Rolle sollte eine Ethik vertreten." Wer dem Cast aus Vier im Roten Kreis genau zuschaut, weiß wie Melville das meint. Die vier Hauptcharaktere brauchen nur wenige Worte, sie rauchen viel, sie haben ihre Handlungen im Griff, sie reagieren ohne groß rumzuschwafeln, sie sind melancholisch, sie lassen oft kleine Handlungen oder Blicke über Vertrauen und Misstrauen entscheiden – und sie liegen dabei selten daneben. Zum Happy End führt das zwar auch bei keinem der Beteiligten, aber am Ende kann man ihnen immerhin auf den Grabstein schreiben: "Sie waren konsequent, integer, rauchten verdammt viel – und war bei all dem: lässig."
Die größte Faszination übt dabei natürlich Alain Delon aus, obwohl der komplette Cast auf hohem schauspielerischem Niveau agiert. Aber Delon war um 1970 eben auf dem Gipfel seiner Popularität – und das obwohl, oder gerade weil, er nach seinem Melville-Debüt als Profikiller in Der Eiskalte Engel (1967) vorwiegend zynische, harte, nihilistische oder schwer melancholische Rollen spielte. In einem Interview kurz nach der Veröffentlichung von Vier im Roten Kreis sagt Delon über seinen Charakter Corey: "Das ist wieder eine Figur, die außerhalb der Gesellschaft steht. Man hat mir immer wieder vorgeworfen, dass ich häufig solche Typen spiele. Aber hier ist es etwas anderes. Es ist ein Melville-Film. Und wenn man mit Melville dreht, ist es egal, ob man sich wiederholt."
Ebenso ist es egal, wenn Melville in diesem Film die Storyline eines klassischen Heist-Movies wiederholt und viele Szenen geschrieben hat, die man schon dutzende Male in anderen Krimis gesehen hat. So wie bei Melville – oder zumindest so gut wie bei Melville – hat man sie jedenfalls extrem selten gesehen. In der gerade veröffentlichten in 4K restaurierten Version von Vier im Roten Kreis stimmt das mehr denn je. Und das sonst so oft verkitscht inszenierte Paris und sein Umland, wirken nun noch melancholischer, grauer und verschlagener als in der Originalversion.