Der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet leidet nach eigener Aussage überhaupt nicht unter dem riesigen Erfolg von Die fabelhafte Welt der Amélie, dessen Kultstatus andere Filme seines Oeuvres überstrahlt. Für das 20-jährige Jubiläum, das rein rechnerisch in diesem Sommer anstehen müsste, habe er sogar eine neu produzierte "Mockumentary" geplant, wie Jeunet im Frühjahr 2019 verriet. Wir sind gespannt, wollen aber trotzdem in dieser Rubrik mit einer steilen These einsteigen: Der beste Wohlfühlfilm von Jean-Pierre Jeunet ist mitnichten Amélie – sondern die herrlich-schräge, irgendwie magische Weltverbesserungs- und Paris-Komödie Micmacs - Uns gehört Paris! Jeunet selbst sagte damals, er habe eine "David-gegen-Goliath-Story mit einer Prise Mission Impossible und Toy Story obendrauf" machen wollen – und genau das ist ihm mit einem tollen Cast gelungen.
Aber der Reihe nach: MicMacs erschien 2009, fünf Jahre nach dem epischen Weltkriegsdrama Mathilde – Eine große Liebe. Jeunet schrieb das Drehbuch wieder mit Guillaume Laurant, mit dem er seit Amélie zusammenarbeitet. Die Handlung entspinnt sich um das Schicksal eines jungen Mannes namens Bazil (Danny Boon), dessen Vater vor Jahren bei dem Versuch starb, eine Landmine zu entschärfen. In Rückblenden erfahren wir, wie sich der kleine Bazil die Reste der Mine anschaut und sich das Logo der Firma einprägt. Jahre später, während Bazil in einer Videothek arbeitet, tritt die Waffengewalt erneut in sein Leben. Vor der Videothek kommt es zu einer Schießerei – Bazil wird Kolletaralschaden und muss fortan mit einer Kugel in der Stirn leben, die ihn manchmal etwas sonderbar werden lässt. Als Bazil aus dem Krankenhaus kommt, steht er ohne Job und Wohnung dar. Seine Nachfolgerin in der Videothek drückt ihm zum Abschied noch eine Patrone in die Hand, die sie am Tag nach der Schießerei dort fand. Bazil schaut sofort nach der Gravur der Produktionsfirma – und prägt sich auch diese ein.
Während Bazil sich mit diversen Schlitzohrigkeiten als Obdachloser durchschlägt, wird er von einem alten Mann angesprochen, der seltsame Schrott-Kunstwerke auf der Straße verkauft und ihn einlädt, mit seiner außergewöhnlichen "Wahlfamilie" aus liebenswerten Außenseitern auf einem Schrottplatz am Stadtrand zu wohnen. Da gibt es zum Beispiel Petit Pierre (Michel Crémadès), der besagte Schrott-Kunstwerke und Roboter baut (die größtenteils vom realen Künstler Gilbert Peyre stammen, den Jeunet sehr verehrt). Oder die wundervolle Julie Ferrier als Schlangenfrau "La Môme Caoutchouc", die ihren Körper beliebig verbiegen kann. Oder das Charaktergesicht vieler Jeunet-Filme Dominique Pinon als menschliche Kanonenkugel Fracasse, der leider nur in den 70ern mal kurz im Guinness-Buch der Rekorde auftauchte. Der heutige Weltstar Omar Sy wiederum spielt mit breitem Grinsen und bubenhaften Charme Remington, der die Tage am liebsten an einer alten Remington-Schreibmaschine verbringt und fast nur in Sprichwörtern und Metaphern kommuniziert.
Bazil inmitten seiner neuen Familie: Calculette (Marie-Julie Baup), Bricabrac (Dominique Pinon), Cassoulet (Yolande Moreau), Bazil (Dany Boon), Petit Pierre (Michel Cremades), Canaille (Jean-Pierre Marielle), Remington (Omar Sy) - v.l.n.r. © Kinowelt GmbH
Was den Film dabei noch ein wenig außergewöhnlicher macht, ist die klare und bei all dem Witz und der Fantasie durchaus scharfe moralische Haltung. Jeunet und seine Gang nehmen die Waffenindustrie ausdrücklich ins Visier und zeigen die Doppelmoral einer Branche, die sich als Friedenswächter geriert und eben doch oft genug an sinnlosen Kriegen verdient. Dem Magazin "Der Spiegel" erzählte Jeunet damals im Release-Jahr, wie er auf diese Idee kam: "Das war bereits, als wir am Schnitt von Die Stadt der verlorenen Kinder (1995) arbeiteten. Neben uns befanden sich die Waffenfabriken von Dassault. Wir gingen manchmal in dasselbe Restaurant, in dem auch die Ingenieure zu Mittag aßen. Sie sahen adrett, freundlich und ziemlich wichtig aus. Ich stellte mir vor, wie sie abends nach Hause kommen und ihren Kindern einen Gute-Nacht-Kuss geben. Dabei hatten sie sich am Tag noch Waffen ausgedacht, die andere Menschen dieser Erde zerfetzen oder verstümmeln. Der natürliche Gegensatz zu diesen Kriegsgewinnlern, die eine Komödie über einen so diffizilen Stoff unbedingt braucht, schien mir ein Trupp Schrottplatzbewohner zu sein."
Jeunet war dabei vor allem folgendes wichtig: "Egal was man macht, ob Komödie oder Science-Fiction, man muss sein Thema ganz genau recherchieren. Deswegen haben wir uns mit Vertretern des Verteidigungsministeriums getroffen und haben eine industrielle Waffenschmiede besichtigt. Dort hat man uns alles sehr freundlich erklärt. Alles, was in meinem Film diesbezüglich auftaucht, ist wahr. Wenn ein Redner erklärt, es sei volkswirtschaftlich teurer und psychologisch fieser für den Feind, wenn man ihn verletzt, als wenn man ihn tötet, dann ist das Originalzitaten entnommen."
Bazil (Dany Boon) unterwegs in Paris: Der Film ist auch ein Duell zwischen "alter" bzw. "gebrauchter" und der modernen Technik. © Kinowelt GmbH
Wie die Geschichte ausgeht und was für Volten sie schlägt, wollen wir an dieser Stelle erst einmal nicht weiter verraten. Aber so viel sei gesagt: Sie werden sich vermutlich in Szenen wiederfinden, in denen sie mit breitem Grinsen und geballter Fast vor dem Fernseher stehen und die MicMacs-Gang lautstark anfeuern werden.
Und wenn das letzte Lachen gelacht ist, dann könnte man sich auch mal anschauen, wie beschämend gut unser eigenes Land in der Waffenindustrie am Start ist – in einer Branche, die trotz weltweiter Pandemie gerade weiterhin floriert.
DK