Nach den Oscars ist vor den Oscars. Dazwischen liegen 365 Tage Popcorn – die Golden Globes, Emmys und Oscar-Nominierungen. So dreht sich das Leben rund ums große Kino in einem normalen Jahr. Aber natürlich wissen wir längst, dass weder 2020 noch 2021 ein Jahr wie jedes andere waren oder sind, selbst in jenen Breitengraden der Welt, die seit geraumer Zeit von den schlimmsten Katastrophen verschont wurden. Und so bekommen die Anwärter*innen auf die Academy Awards 2021 zu einem Zeitpunkt Bescheid über ihre Aussichten, zu dem üblicherweise die Preise schon vergeben worden sind. Aber lieber später als gar nicht.
Die 93. Oscar-Verleihung, die geliebte Show mit Rotem Teppich, schicken Klamotten und Bühnenfails, ist übrigens weiterhin als Präsenzveranstaltung geplant – nur soll sie in diesem Jahr eben erst im April über die Bühne gehen. Die Vorfreude unter den Nominierten dürften weder die leichte zeitliche Verzögerung noch die drohende Option eines reinen Online-Events ohne Publikum wesentlich trüben. Prestige ist Prestige. Und verdienter Lohn für gute Arbeit mag besonders in einer auch für den Kulturbetrieb nicht einfachen Zeit Balsam auf die wunden Künstler*innen-Seelen sein. Hinzu kommt, dass die Jury ihren Vorsätzen treu bleibt und die Chancen auf die begehrten Statuen etwas diverser streut. Allemal eine gute Nachricht – auf die man ehrlich gesagt schon etwas länger wartet.
Jacob (Steven Yeun) mit Familie in "Minari – Wo wir Wurzeln schlagen" © Prokino
So erhält Emerald Fennell als erste weibliche Regisseur*in überhaupt die Gelegenheit, gleich mit ihrem Debütfilm Promising Young Woman – einem Werk der Güteklasse »Thought Provoking« – die Auszeichnung für die beste Regie abzustauben. Und noch eine Premiere: Mit Steven Yeun taucht ein amerikanisch-asiatischer Darsteller in der Best Actor-Kategorie auf. In Lee Isaac Chungs Drama Minari – Wo wir Wurzeln schlagen spielt der The Walking Dead-Star Yeun einen aus Korea immigrierten Familienvater, der in den 1980er-Jahren im amerikanischen Bible Belt sein Glück sucht. Die Suche nach dem Glück ist ein altes Menschheitsthema, ebenso wie die Grenzen, die ihr durch herrschaftliche Willkür oder die Limitationen der eigenen Befindlichkeiten aufgezeigt werden. Somit findet sie sich immer wieder in allen möglichen Variationen auf der Leinwand wieder. Wir erinnern uns noch an den letztjährigen Oscar-Beitrag von Pedro Almodóvar, der für sein autobiografisch gefärbtes Melodram Leid und Herrlichkeit im Best Director-Ranking landete, während sich Hauptdarsteller Antonio Banderas Chancen auf den Hauptdarsteller-Award machen durfte. Gewonnen haben sie nicht. Umso mehr drücken wir Steven Yeun die Daumen. Eine Spur Parteilichkeit sei uns verziehen. Denn was wäre eine Oscar-Zeremonie ohne persönliche Favoriten?
Nennen wir ruhig noch Thomas Vinterberg. Zu den herausragenden Filmen im Wettbewerb, in dem sich ganz nebenbei zahlreiche Streamingplattform-Produktionen tummeln, zählt mit Sicherheit seine Hommage an das Leben ohne Rücksicht auf Konventionen: Der Rausch. Den haben wir in der Liste der Kandidaten für den besten internationalen Film schon mal dick angekreuzt – ein zusätzlicher Sieg Vinterbergs im Rennen der Regisseure wäre zwar eine kleine Sensation, undenkbar ist das auch nicht. Ähnlich wie in Das Fest, dem ersten nach den Dogma 95-Regeln gedrehten Film, inszeniert der Däne mit Der Rausch eine Art Sozialexperiment, mit dem er das Urteilsvermögen und die Emotionen des Publikums herausfordert. Mads Mikkelsen spielt einen von vier Lehrern in der Midlife-Crisis, die mit einem permanenten Alkoholpegel von 0,5 Promille dem Burnout trotzen.
Dahinter stecken nicht nur die wirklichen Theorien eines norwegischen Psychologen. Thomas Vinterberg gelingt mit Der Rausch mehr als eine Gesellschaftssatire zum Thema Alkoholkonsum. Er wirft die momentan beinahe schon nachrichtenrelevante philosophische Frage nach dem Sinn eines Lebens auf, das nicht in seiner Fülle ausgekostet werden kann – weil äußere sowie verinnerlichte Widerstände und Regeln dies verhindern. Und doch geht es schließlich wie in dem modernen Klassiker Das Fest eben nicht um rein individuelles Erleben, sondern um gemeinschaftliche Erfahrung. Um Miteinander, Rücksicht und Verständnis. Vinterbergs subtile Message, die spätestens mit dem Schlussbild klar wird, scheint letztlich beinahe frühlingshaft optimistisch. Eine Feier des Daseins. So bleibt ihm nur zu wünschen, dass er sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April das ein oder andere Gläschen Schampus gönnen darf. Aber alle anderen Anwärter*innen haben die Preise natürlich genauso verdient. Man kann annehmen, dass sie sich dieses Jahr sogar über eine persönlich überreichte Goldene Himbeere freuen würden. Es sind filmreife Zeiten.
WF