Wenn man mit Anfang 20 damit beginnt, an der Universität Filmwissenschaft zu studieren, muss man sich auf zwei Fragen gefasst machen: Was macht man später denn irgendwann wann mal beruflich damit und – die wohl eindeutig schwieriger zu beantwortende – was sind deine persönlichen Lieblingsfilme? Bei der letztgenannten Frage kam ich des Öfteren in Verlegenheit, weil ich einen Hang zu abgründigen Filmstoffen habe – und weil Gaspar Noés Thriller-Drama Irreversible als vieles bezeichnet werden kann, aber eher selten als "Lieblings"-Film…
Der Ruf eilte dem Film voraus, noch ehe ich ihn zum ersten Mal gesehen habe – Noés psychedelisches Drogen-/Wiedergeburtsdrama Enter The Void war zum Kultfilm in meinem Freundeskreis geworden, doch Irreversible mit den Presseberichten von der damaligen Cannes Premiere von sich übergebenden Gästen, war dann doch auf abgründige Weise verlockend.
Passend zum rauen Ton (und Bild) des Films lieh ich mir den Film aus der Instituts-Mediathek – stilecht – auf VHS-Kasette aus (nein, nicht ich bin so alt, die Mediathek in der Uni nur lange Zeit – nennen wir es mal – "medienarchäologisch" unterwegs). Die Qualität des Materials war, gelinde gesagt, abenteuerlich, hat aber der "Haptik" des Ursprungsmaterial durchaus entsprochen.
Die Geschichte um das eigentlich glücklich verliebte Paar Alex (Monica Belucci) und Marcus (Vincent Cassel) wird jäh aus den Fugen gerissen, als die beiden nach einer Party streitend auseinandergehen und Alex auf dem Nachhauseweg brutal vergewaltigt wird. Marcus – blind vor Wut – will Rache am vermeintlichen Täter üben. Noch in derselben Nacht spürt er diesen in einem verruchten Nachtclub auf, in dem sich eine Orgie der Gewalt entlädt. "Le temps detruit tout" – die Zeit zerstört alles, ist das eingeblendete Motto des Films. Eine kleine Besonderheit habe ich vergessen: Der Regisseur erzählt diese (klassische) Rape-Revenge-Story rückwärts und zieht die Zuschauer*innen in einen unvergleichlichen Sog.
Vor der Party und dem Grauen: in der Mitte Alex (Monica Belucci) und rechts daneben ihre Freund Marcus (Vincent Cassel) © Arthaus / Studiocanal
Man vergisst ja nicht viele "erste Male" und so auch nicht dieses erste Mal Irreversible-Sehen. Der Film hat mich mein gesamtes Studium begleitet, wurde gar zum zentralen Thema meiner Abschlussarbeit. Warum dieser Film, der inhaltlich und grafisch nach wie vor zu einem der verstörendsten Erlebnisse zählt, die mir untergekommen sind, ist schwer zu vermitteln. Aber genau das ist der eigentliche Kern. Die Kamera ist völlig entfesselt: Nach einem Prolog wirbelt, dreht und schwirrt die Kamera in der ersten Szene ruhelos hinter einem sichtlich agitierten Matthieu Kassovitz in das "Rectum", einem SM-Club für Homosexuelle, wo wir nicht nur explizite Sex-Praktiken zu sehen bekommen, nein die Szene endet mit einem massiven Feuerlöscher und einem – nicht ganz so massiven – Schädel. Dazu ertönt das Dröhnen von tiefen Bässen, die Schatten werden nur durch rotes, blinkendes Licht erhellt. Ein Alptraum, ein Höllentrip.
Dass der Film bei all seiner handwerklichen Erstklassigkeit auch Kritik erhält, ist kaum verwunderlich. Erst recht, da diese Szene doch nur die Spitze des Eisberges bleibt, folgt doch im weiteren Verlauf noch eine nicht endend wollende, minutenlange Vergewaltigung der Protagonistin, der die Zuschauer*innen nicht entkommen können, außer sie schalten ab oder schließen die Augen, bis der Schrecken vorüber ist. Noch nie zuvor (und seither nicht wieder) hat es ein Regisseur vermocht, mich so sehr leiden zu lassen. Auf schmutzige Art und Weise fühle ich mich verantwortlich für das Grauen, wenn ich den Film schaue – und gleichzeitig so hilflos, weil man diesem kein Einhalt gebieten kann. "Le temps detruit tout" – doch in voraussehbarer Zukunft wird mir dieses Gefühl beim Sichten von Irreversible nicht zerstört, viel eher bleibe ich wohl verstört. Aber auch solche Gefühle machen groß(artig)e Filme aus.
Monica Belucci und Vincent Cassel waren damals ein von der Klatschpresse regelrecht verfolgtes Liebespaar – diese Rollen waren also durchaus als Provokation gedacht. © Arthaus / Studiocanal
ARTHAUS Mitarbeiter Jan Peschel, kurz vorgestellt:
An Bord seit: 01.11.2022
Was genau machst du bei ARTHAUS / Studiocanal? Sales Manager, Theatrical. Das bedeutet: Ich bin Ansprechpartner der Kinobetreiber*innen für Norddeutschland, kümmere mich aber auch um Anfragen um sogenannte Nebenrechte, zum Beispiel wenn ein Ausschnitt aus einem unserer Filme verwendet werden soll.
Dein schönster ARTHAUS-Moment? Den ersten Millionen-Kinobesucher*innen-Erfolg mit dem gesamten Team zu feiern
ARTHAUS ist für dich …? Eine Bibliothek mit zahllosen Filmschätzen – und ein Team, das sich mit Herzblut um diesen Katalog kümmert.
Du in drei Filmen: Booksmart (2019, R: Olivia Wilde), Night on Earth (1991, R: Jim Jarmusch), Sing Street (2016, R: John Carney)
Und ein Guilty Pleasure? Eigentlich schäme ich mich für keinen Film… Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug (Airplane, US 1980, R: David Zucker, Jim Abrahams, Jerry Zucker)
Jan Peschel