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Bild zu Nachruf auf Ghost Dog

Nachruf auf Ghost Dog

Aus dem Booklet der neuen Jim Jarmusch Complete Collection mit dem 15 Filme umfassenden Gesamtwerk: Die besondere Würdigung eines besonderen Helden.

24. Mai 2023

Einige Filmnerds dürften bei Brieftauben auf dem Dach an The Producers – Frühling für Hitler von Mel Brooks denken. Denn der Autor des Skripts, das die durchgeknallten Musical-Produzenten in Brooks‘ Debüt auf die Theaterbühne bringen werden, um garantiert einen Misserfolg einzufahren, den sie freilich in finanziellen Reibach verwandeln wollen, lebt mit seinen Brieftauben auf dem Dach.
Der Besuch bei diesem schrägen Vogel gehört zu den wichtigsten, Verzeihung, witzigsten Szenen von The Producers – Frühling für Hitler. Das liegt an der genialen Konziääääärsch , die die ungleichen Glücksritter an der Haustür empfängt.

Die Philosophie: Studieren geht über Krepieren © Studiocanal

Die Philosophie: Studieren geht über Krepieren © Studiocanal

Also, Brieftauben auf dem Dach, da war doch was … Solche phantomhaften Déjà vus sind nix Besonderes, wenn man Filme des geschätzten Jim Jarmusch guckt. Doch kann man – so wie wir bei Ghost Dog – Der Weg des Samurai meets The Producers – nicht immer sicher sein, ob es die Absicht des Filmemachers ist, eine bestimmte Referenz, sei sie auch verfremdet, im eigenen Werk aufscheinen zu lassen. Oder ob es womöglich an einem selbst liegt. Dass wir da etwas sehen, was es gar nicht gibt. Der größte Teil von uns Jarmusch-Heads ist nun mal cineastisch veranlagt und kennt so viele Filmszenen wie Sterne am Himmel.

In diesem Nachruf, liebe Gemeinde, trauern wir um Ghost Dog. Den Killer aus dem nach ihm benannten Film, der samt einem Verschlag voller Brieftauben auf dem Dach lebt. Mit Mel Brooks hat das aber eher weniger zu tun. Die Filmgeschichte erklärt uns vieles und doch nicht alles. Vermutlich schätzt Ghost Dog an den Täubchen, dass sie loyal sind, da sie stets zu ihm zurückkehren. Denn Loyalität wird für ihn großgeschrieben. Sie ist sein wichtigstes Schwert. Ist das nicht einer der Gründe, warum wir ihn so lieben?
In der Trauer um Ghost Dog können wir als Jarmusch-Community jedenfalls gewiss sein, nie allein zu weinen. Vielmehr wächst die Schar der Trauernden stetig. Denn der Großstadt-Samurai ist zwar seit 1999 tot – er ist im selben Jahr gestorben, in dem er geboren wurde –, lebt aber umso intensiver weiter, weil er als Filmfigur unsterblich ist. Einem wie ihm traut man sogar zu, dass er gelebt hat, bevor er geboren wurde. Man beweint ihn schon, bevor er ins Jenseits übergeht.

Der Meister: Schwieriges Verhältnis © Studiocanal

Der Meister: Schwieriges Verhältnis © Studiocanal

Ein wacher Geist, unser Ghost Dog, der nicht nur unter die Haut geht, weil Jim Jarmusch ihn erschaffen hat und dem Helden mit Hilfe des großen RZA einen Soundtrack auf den Weg gab, der ihm voraus- und nacheilt. So wie ein Ruf. Oder ein Schatten. In der Art der Slowmotion-Action im Film. Die verströmt bei aller Härte ja auch eine gewisse Psychedelik.

Wir ehren ihn auch nicht nur, weil uns seine Brieftauben entfernt an diese Mel Brooks-Sache erinnern. Vergesst es! Wir sind begeistert von Ghost Dog, weil Forest Whitaker ihm eine so kaltblütig-warmherzige Persönlichkeit verleiht. Glaubhaft macht, dass hier ein guter Typ einen schmutzigen Job erledigt, weil die Verhältnisse noch schmutziger sind als der Job. Ghost Dog hat die Samurai-Philosophie verinnerlicht und ist selbst ein Weiser. Muss mal erwähnt werden. Dass er kein Weißer ist, reiben ihm die verdammte Mafia und der verfluchte Rest der Gesellschaft ständig unter die Nase. Er weiß nur zu gut, dass ihm keine Wahl bleibt, außer er selbst zu werden. Die Kultur ist ihm Eskapismus und echte Waffe zugleich.

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Besser als in der Szene, in der Ghost Dog einen hinterrücks durchgeführten Überfall bemerkt, kann man es nicht in Bilder fassen: Wie er sich innerlich bereits fertig macht, um dem potenziell Beraubten zur Hilfe zu eilen. Der Attackierte aber – wer hätte es gedacht! – beherrscht eine Kampftechnik, die ihn dem Angreifer überlegen macht.
Ghost Dog quittiert die gelungenen Drehungen und Kicks des »Opfers« aus der Distanz, mit innerlicher Bewunderung und sowas wie leisem Schulterzucken unterm Auge. Wir verstehen – jedes Wort wäre an dieser Filmstelle überflüssig. Die ganze Martial-Arts-Filmhistorie steckt in dieser Sequenz, gesehen durch die Augen eines Aficionado. Und dazu die Realität des täglichen Überlebenskampfs in einer Mega-Ruine à la Jersey City. Gespielt wird der Selbstverteidiger übrigens von Shi Yan Ming, Mönch und US-Shaolin-Kung-Fu-Pionier, außerdem der Kung Fu-Lehrer von RZA. Just sayin‘.

Ghost Dog ist ein phantastischer Charakter, im Sinne von fiktional, means: den es nur im Kino geben kann, und der einem im wahren Leben wie ein treuer Freund begleitet, wenn man ihm mindestens einmal begegnet ist. Man schaut Ghost Dog sowieso mehrmals – auch wegen seinen freakigen "Freund*innen", Raymond und Pearline, gespielt von Isaach de Bankolé und Camilee Winbush. Es gibt da plötzlich diese innere Stimme, liebe Gemeinde, die uns öfter mal fragt, so wie sich die beiden später auch öfter mal fragen werden: Was würde Ghost Dog tun?

Die Freunde: Pearline und Raymond © Studiocanal

Die Freunde: Pearline und Raymond © Studiocanal

Ghost Dog lebt nach der Philosophie des Hagakure und den Richtlinien der Samurai. Demnach muss er sich mit dem Tod bereits abgefunden haben, ja er muss sogar so leben, als wäre er schon tot, um sich im Zweifelsfall für seinen Meister zu opfern. Ohne Zögern. Darum beginnt unsere Trauerarbeit sofort mit dem Auftauchen Ghost Dogs, und sie endet nie. Vielleicht müssen wir mal ein paar Tränen lachen zwischendurch – über den absurden "Meister". Aber dass Ghost Dog so ein Loner ist, hat was Rührendes.

Indeed, man kann Tränen lachen und weinen. Sich in Bildern unterhalten oder mit dem Herzen sprechen. Gedanken in Munition verwandeln – und Munition in Gedanken. Das haben wir von Ghost Dog gelernt. Von dem, der schon tot ist, während er noch atmet. Der uns nie im Stich lässt, auch wenn er als freier Geist zum Verschwinden neigt. Lasst unsere Trauer zur Feier der Kunst des Kinos von Jim Jarmusch werden mit dem aus 15 Filmen bestehenden Gesamtwerk, das jetzt in der Complete Edition erhältlich ist (mitsamt vielen Extras sowie umfassendem Booklet inklusive dieser Trauerrede).

… Brüder und Schwestern und Verwandte jeden weiteren Geschlechts: Werfen wir zunächst die Ghost Dog-Blu-ray ein, drücken auf Start und fliegen los! Bis zur Stelle des Films, an der wir das Schiff auf dem Dach entdecken, als hätten wir es noch nie zuvor gesehen und uns nicht nur fragen, wie man auf die absurde Idee kommen kann, so einen Kahn auf dem Trockenen zu bauen und noch dazu in schwindelnder Höhe, sondern auch: Wo haben wir das schon mal gesehen? Es muss ein Traum gewesen sein. Der Traum vom besseren Leben in einer besseren Welt. Unsere Hoffnung darauf nährt sich von den Sehnsüchtigen. Und die tun manchmal die verrücktesten Dinge.

Amen!

WF

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