Für meinen Beitrag zu ARTHAUS INHAUS fiel die nicht ganz einfache Wahl schlussendlich auf einen relativ unbekannten Film von David Lynch, der auf den ersten Blick so ganz und gar nicht wie ein Film von David Lynch erscheint. Erst bei genauerem Hinsehen – und das ist eine dieser Feinheiten, die mir an The Straight Story gefallen – wird die spezifische "lyncheske" Handschrift sichtbar, von der auch dieser herzerwärmende und lebenskluge Beitrag zur Filmgeschichte geprägt ist.
Erzählt wird die sehr einfache und auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte des 73-jährigen Amerikaners Alvin Straight (Richard Farnsworth), der sich dazu entschließt, nach zehn Jahren Funkstille seinen Bruder Lyle (Harry Dean Stanton) im benachbarten Bundesstaat zu besuchen, nachdem dieser einen Schlaganfall erlitten hat. Da Alvin weder seine volle Sehkraft noch einen Führerschein besitzt und – quasi als Prototyp des modernen Cowboys – auch nicht von jemand anderem gefahren werden möchte, legt er die Strecke von knapp 400 Kilometern von Laurens, Iowa, nach Blue River, Wisconsin, auf einem fahrbaren Rasenmäher mit einer beachtlichen Höchstgeschwindigkeit von etwa 8 km/h zurück. Gepäck und Proviant für die gesamte Reisedauer sind in einem Anhänger verstaut, der größer ist als das Gefährt und sein Fahrer zusammen. Im Verlauf seiner sechswöchigen Tour macht Alvin die Bekanntschaft von zahlreichen skurrilen, liebenswürdigen und sehr unterschiedlichen Charakteren, die ihre Geschichten mit ihm teilen und im Gegenzug stets warmherzige kleine Lebensweisheiten erhalten.
Wer sich dazu entschließt, sich gemeinsam mit Alvin Straight auf die Reise zu begeben, kann sich schon einmal auf malerische Ausblicke auf die in sommerlich warme Farben getauchten Landschaften der USA freuen, die der Zuschauerblick stellenweise dank der Kameraführung so bedächtig von oben streift wie der eines durch die Lüfte gleitenden Vogels. Abgesehen davon, dass man nicht gerade alle Tage auf einer Landstraße einem freundlichen älteren Herren auf einem Rasenmäher begegnet, fällt die Straight Story mit ihrem gedehnten Tempo und ihrer konsequent geradlinigen Erzählstruktur als außergewöhnlich ruhige Inszenierung ohne schnelle Schnittfolgen und Zeitsprünge auf. Insbesondere, wenn man sich vor Augen führt, dass im selben Jahr unter anderem der erste Teil der Matrix-Reihe erschienen ist, der mit seiner Bullet Time den Actionfilm revolutionierte. The Straight Story wirkt indes dem Geschwindigkeitsrausch seiner Zeit entgegen und fühlt sich an wie eine kleine Entschleunigungskur.
Alvin Straight (links, Richard Farnsworth) bei einem Boxenstopp © Arthaus / Studiocanal
Außergewöhnlich erscheint die einfache Welt des Films umso mehr, wenn man diesen im Kontext des Gesamtwerks seines Regisseurs betrachtet, den man zweifelsohne als einen Meister des komplexen und rätselhaften Films bezeichnen kann: David Lynch. The Straight Story ist sein zugänglichster und am wenigsten kritisierter Film, der nach einer Reihe von verstörenden, surrealistischen Bilderwelten wie zuvor in Lost Highway (1997) beim internationalen Publikum für überraschte Reaktionen sorgte und in den USA sogar von Disney in den Verleih genommen wurde. Im Grunde handelt es sich hier um Lynchs experimentellstes Werk. Und doch bleiben die individuelle Handschrift und das inszenatorische Geschick des Ausnahmeregisseurs durchweg erkennbar. Schon allein daran, dass es bemerkenswerte Leistung ist, eine so unglaublich simple Plotkonstruktion ohne einen Moment der Langeweile filmisch umsetzen, und noch dazu eine derart herzerwärmende Geschichte über Familienbande und den letzten Abschnitt des menschlichen Lebens ohne sentimentale Rückblenden zu erzählen, mit denen hier leicht die Grenze zum Kitsch im schlechtesten Sinne übertreten wäre. Ebenso zeigt sich Lynchs Signatur in der Abgründigkeit mancher Erfahrungen, die Alvin mit einigen der denkwürdigen Personen auf seiner Reise austauscht und die ein alles andere als verharmlostes und weichgezeichnetes Bild der amerikanischen Lebensrealität vermitteln, wie auch in einigen kurzen, skurrilen Szenen wie derjenigen mit der Frau, die vollkommen aufgelöst ist, weil sie auf dem Weg zur Arbeit ständig versehentlich Tiere überfährt.
"Zu einer solchen Einfachheit in der Darstellung der menschlichen Tragödie und ihrer Komödie kommt man nicht auf geradem Weg. The Straight Story ist einer jener Filme, auf die das Kino lange Jahre hingearbeitet hat. Das cineastische Kunstwerk der neunziger Jahre, auf das es sich zu warten gelohnt hat."
Georg Seeßlen in seiner Kritik auf filmzentrale.com
Genau darin liegt auch der Grund meiner persönlichen Faszination für The Straight Story – Eine wahre Geschichte: er ist einfach gestrickt, aber nicht oberflächlich; liebevoll, aber nicht naiv; ruhig, aber nicht langweilig; optimistisch, aber nicht verklärt; perfektionistisch, aber nicht ohne Ecken und Kanten. Dass der Schauspieler Richard Farnsworth, der hier als Alvin Straight seine letzte große Reise antrat und dafür mit einer Oscar-Nominierung bedacht wurde, sich ein Jahr nach Vollendung des Films aufgrund einer unheilbaren Krebserkrankung selbst erschoss, machte auf tragische Weise diese Rolle zu seiner letzten. Auch für Kameramann Freddie Francis, der schon bei Der Elefantenmensch (1980) und Dune – Der Wüstenplanet (1984) mit Lynch zusammengearbeitet hatte, war The Straight Story die letzte Filmproduktion, zu der er seine herrlichen Bildkompositionen beisteuerte.
Kameramann Freddie Francis ist es mit zu verdanken, dass die Fahrt des Alvin Straight niemals langweilig wird. © Arthaus / Studiocanal
In Bezug auf die musikalische Begleitung hätte es kaum eine treffendere Besetzung geben können als den Twin Peaks-Komponisten, dessen Nachnamen ich an dieser Stelle glücklicherweise nicht aussprechen muss: Angelo Badalamenti. Mit seinem harmonischen Soundtrack ist ihm die kongeniale Übersetzung von der Sprache der Bilder in die der Musik geglückt. Überzeugen Sie sich doch gerne selbst durch einen gezielten Klick hier, um sich mit einem Stück daraus auf die Atmosphäre des Films einzustimmen, bei dem man die Kornfelder fast schon riechen kann.
Zu guter Letzt ist The Straight Story auch unter meinen persönlichen Lieblingsfilmen einer, der aus der Reihe tanzt, sich aber vielleicht gerade deshalb so hervorragend in die Gesamtheit einfügt: Als notwendiges Gegengewicht etwa zum experimentellen visuellen Stil eines Jean-Luc Godard, der grandios düsteren Filmkunst von Chan-Wook Park oder dem makabren schwarzen Humor von Anders Thomas Jensen.
Viel Vergnügen auf diesem Roadtrip der anderen Art!
Schauspieler Richard Farnsworth in seiner letzten Rolle als Alvin Straight. © Arthaus / Studiocanal
ARTHAUS Mitarbeiterin Victoria Lang, kurz vorgestellt:
An Bord seit: Oktober 2017
Was genau machst du bei ARTHAUS / Studiocanal? Ich unterstütze als Werkstudentin die Home Entertainment Publicity und sorge unter anderem dafür, dass nicht nur die Redaktion des ARTHAUS Magazins, sondern auch andere interessierte Rezensenten unsere Filme sichten können und mit ausführlichen Infos versorgt werden. Auch der ein oder andere Text auf arthaus.de stammt von mir.
Dein schönster ARTHAUS-Moment? Einer davon war definitiv eine sommerliche Tour durch Berlin mit der erstaunlich nahbaren Margarethe von Trotta, der man am liebsten noch viele weitere Stunden zugehört hätte. Und meinen schönsten ARTHAUS Classics-Kinomoment muss ich noch erwähnen: den restaurierten Final Cut von Apocalypse Now im Kino sehen zu können, der in seiner ursprünglichen Fassung weit vor meiner Geburt erschienen ist, hat mich einfach nur umgehauen.
ARTHAUS ist für dich …? Pure Liebe zum Film (und der eigentliche Grund, weshalb ich mal bei Studiocanal gelandet bin).
Du in drei Filmen? Coffee and Cigarettes – Drive – Tausendschönchen
Und ein Guilty Pleasure? Der Teufel trägt Prada
Victoria Lang