Schaut man sich den Film Der diskrete Charme der Bourgeoisie heute, 50 Jahre nach seiner Premiere im September 1972, erneut an, taucht rückblickend ein weiterer zentraler Aspekt des Films auf: ein Porträt Frankreichs nach dem Mai 1968. Georges Pompidou hat Charles de Gaulle als Präsidenten abgelöst.
Übrigens wurde der von Buñuel zunächst vorgeschlagene Titel Der Charme der Bourgeoisie von Jean-Claude Carrière durch das Adjektiv diskret erweitert. Rein zufällig fand man diesen endgültigen Titel des Films am Todestag von General de Gaulle, wie Buñuel in Mein letzter Seufzer erwähnt. Die Auswirkungen von 1968 sind im Film unübersehbar. Buñuel etabliert einen surrealistischen Sockel mit den beiden Säulen der Gesellschaft: Kirche und Armee. So möchte sich die Kirche durch den von Julien Bertheau gespielten Arbeiter-Bischof dem Volk annähern. Bertheau hatte bereits in Buñuels Morgenröte (1955) mitgespielt und wird zu einer festen Größe im weiteren Werk des Regisseurs. Der von ihm verkörperte Bischof kommt zu Fuß, weil er sein Auto an die Armen verschenkt hat. Er will nach dem Gewerkschaftstarif bezahlt werden. Manchmal wird er von der bürgerlichen Gesellschaft wegen seines Rangs als Bischof zu den Mahlzeiten eingeladen, dann wieder nur als Diener behandelt. Die von Stéphane Audran gespielte Hausherrin Madame Sénéchal bittet ihn einmal, Stühle für die Soldaten zu holen, die sich selbst eingeladen haben.
Immer wieder spielt Buñuel mit der unterschiedlichen gesellschaftlichen Akzeptanz des Bischofs, je nachdem, ob er seine Soutane oder als Gärtner Zivilkleidung trägt. Das sorgt bei Tisch immer neu für Verwirrung. Wenn seine Arbeitgeber, die Sénéchals, ihn zunächst als Arbeiter behandeln, glauben sie ihm nicht, dass er Bischof ist, und werfen dem Dienstpersonal vor, naiv zu sein und jeden hereinzulassen. Als der Bischof dann einen weiteren, diesmal feierlichen Auftritt hat und mit seiner Soutane erscheint, meint er: "Sehen Sie, glauben Sie mir jetzt?" Ähnlich verhält es sich mit dem Botschafter. Als Frau Sénéchal ihm den in Zivil gekleideten Bischof vorstellt, streckt dieser automatisch die Hand aus, damit man ihm seinen Bischofsring küsst. Der Botschafter dagegen erkennt ihn nicht und schüttelt ihm nur vulgär die Hand. Hier erkennt man Buñuels akribische Aufmerksamkeit für die Gepflogenheiten je nach Status, sozialem Anstand und Kleiderordnung, die zu einigen komischen Szenen führen.
Ebenfalls auf dem Menu: die ein oder andere Leiche. © Kinowelt GmbH
Auch die Episode um einen brutalen Polizisten, berüchtigt als Blut-Brigadier, steht ganz im 68er Kontext der Arbeiter- und Studentenproteste. So erlebt man, wie dieser Brigadier einen Terroristen foltert. Damit macht er die Bemühungen der Polizei zunichte, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen. Buñuel mokiert sich köstlich über diesen Brigadier, der bei einer Demonstration getötet wird und seine Missetaten wieder gut machen möchte. Er will das schlechte Image der Polizei aufpolieren. Das bleibt jedoch nur ein frommer Wunsch, denn wenn er als Gespenst in der Polizeistation umherirrt, macht er wieder nur alles falsch. Er lässt die Vertreter der korrupten Bourgeoisie frei. Buñuels Film ist auch sonst voller Anspielungen, z.B. auf die Frauenbewegung. So sagt der Botschafter zu der jungen Terroristin, die ihn töten will, nachdem er ihr Attentat verhindert hat: "Du bist besser für die Liebe geeignet als für Kriegsspiele." Und dann ist da noch "Miranda", das fiktive lateinamerikanische Land des Botschafters. Es steht für Militärdiktatur, Guerillakämpfer, eine revolutionäre Jugend, das straffreie Verstecken ehemaliger Nazis und eine hohe Mordrate. Die Träume der bürgerlichen Protagonisten beleben nicht nur die Ausgangssituation immer wieder neu, sondern offenbaren auch ihre Ängste: Verhaftung durch die Polizei, Inhaftierung, Terroranschläge, und gegen Ende des Films landet die feine Gesellschaft vor dem Erschießungskommando. Wenn sich die potenziellen Opfer dieser Hinrichtung im Haus der Sénéchals vor dem Kamin aufstellen, erinnert das bewusst an Goyas berühmtes Gemälde Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808, das in Buñuels Das Gespenst der Freiheit zu sehen ist.
Als gern gesehener Zwischengang auf der Karte: Verbotene Liebe, oder eher Triebe © Kinowelt GmbH
Max Aub, Schriftsteller, Freund und Mitarbeiter Buñuels, der auch am Drehbuch zu Los Olvidados mitschrieb, sagte in seinem Interviewbuch zu Buñuel: "Im Grunde ist das Grundthema deiner Kunst die Gewalt." Die Antwort lautet: "Ja (...) Aber ich werde dir etwas sagen: Ich sehe keine Gewalt in meinen Filmen." Im Gegensatz zum Titel des Films Der diskrete Charme der Bourgeoisie durchzieht Gewalt den gesamten Film. Da ohrfeigt der Oberst den Botschafter, der ihn daraufhin erschießt. Der Bischof rächt den Tod seiner einst ermordeten Eltern. Hinzu kommen die Erzählungen innerhalb des Films, die alle mit Vergangenheit zu tun haben. Da trifft man auf einen Kavallerieleutnant und den Geist seiner Mutter, die ihr Kind auffordert, den falschen Vater zu vergiften.
Im politischen Kontext seiner Zeit verwirrte Buñuel seine Zeitgenossen. Viele erhofften sich den Zorn und die Wut des Regisseurs von Das Goldene Zeitalter wieder zu finden und damit ein Echo auf die damaligen Slogans der Arbeiter: "Nieder mit der Bourgeoisie! Tod dem Bourgeois!" Man warf Buñuel nun vor, er sei gealtert und bürgerlich geworden. Der wiederum konterte humorvoll: "Ich bin bürgerlich und diskret." Dann fügte er aber noch eine wichtige Nuance hinzu: "Wenn ich ein anständiger Bourgeois wäre, würde ich von meiner Rente leben und keine Filme mehr machen."
Charles Tesson ist Filmkritiker und -historiker sowie Autor des Buches "Luis Buñuel“ éd. Cahiers du cinéma, 1995.
Charles Tesson