Ja, manche Dinge ändern sich nie, andere mit der Zeit dafür ganz gewaltig. Ab und an beschleicht einen auch das Gefühl, das beides gleichzeitig zutrifft, etwa wenn man einen älteren Film anschaut, der gesellschaftliche Phänomene genauer unter die Lupe nimmt. Der spanisch-mexikanische Regisseur Luis Buñuel hat sich öfter mit den Ritualen und Gewohnheiten des Bürgertums auseinandergesetzt, und wenn man heute sein drittletztes Werk Der diskrete Charme der Bourgeoisie betrachtet, wird man daran erinnert, dass die Leute vor 50 Jahren in der Gewissheit lebten, dass es sich bei der Gesellschaft um eine Klassengesellschaft handelt. Eine Erkenntnis, die heutzutage eher in den Hintergrund rückt, selbst wenn von sozialen Ungleichheiten die Rede ist. Und die gibt es schließlich nach wie vor! Die Bourgeoisie als Klasse derjenigen, die über die Produktionsmittel verfügt und nicht zum Volk der Lohnabhängigen zählt – die gibt es eigentlich ebenfalls noch. Sie hatte in den 1970er zum Beispiel die Deutungshoheit über die korrekten Tischmanieren. Und sie wusste damals allein am besten, wie man einen Martini trinkt (wobei Buñuel unter den Tisch fallen lässt, dass das einfache Kinopublikum schon in einem James Bond-Streifen mitbekommen haben könnte, wie britische Geheimagenten das exotische Getränk zu verköstigen pflegen). Oder stimmt das mit der Deutungshoheit jetzt noch viel mehr als vor 50 Jahren? Mitunter kann man sich gar nicht sicher sein, was sich verändert hat und was sich niemals ändern wird.
Diskreter Griff zum Teller: Brust oder Keule? © Studiocanal
Die charakteristische Hochnäsigkeit und Blasiertheit der Eliten, bis dato zumindest als Grundlage für Karikaturen weiterhin existent, kostet Buñuel in der Produktion aus dem Jahr 1972 jedenfalls zur Genüge aus, 1973 gewann Der diskrete Charme der Bourgeoisie dafür den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Das spricht für seine Relevanz. Der Running Gag des Films ist buchstäblich zu verstehen aber entwickelt auf der Metaebene der Geschichte ein Eigenleben. Schließlich geht es bei der Bürgerlichkeit der Hauptfiguren einerseits um einen tief verinnerlichten Habitus, der sich in jeder Lebenslage äußert, und seien es auch noch so absurde bis surrealistische Szenarien. Andererseits geht es schlicht um ein Abendessen, das wegen eines Missverständnisses nicht stattfindet und dessen Nachholtermin in diversen Konstellationen immer wieder verschoben werden muss. Eine Jagd nach der verlorenen Zeit à la Louis de Funès, die allerdings durch vielsagende Zwischenfälle auf tiefschürfende Art unterhaltsam bleibt.
1973 gewann Der diskrete Charme der Bourgeoisie den Oscar als bester fremdsprachiger Film
Nehmen wir nur den real gewordenen Traum des Bischofs, der bei einem der Paare als Gärtner arbeiten möchte – und der von den beiden vor die Tür gesetzt wird, weil sie ihn in der Gärtner-Montur nicht erkennen. Kleider machen eben Leute ebenso wie Manieren – Weisheiten, die natürlich schon damals längst auch im Kleinbürgertum grassierten. Aber in diesen Kreisen hätte man die klassenspezifischen Verabredungen nicht so schnell gebrochen wie bei denen, die sich für was Besseres halten. Wenn Gäste zum Dinner kommen, zieht man sich doch nicht zurück, um miteinander Sex zu haben! Buñuel nimmt die Spleens seiner Großbürger*innen mit Humor. Die Entschuldigung der ignoranten Eheleute etwa kontert der Bischof mit den Worten, es sei doch schließlich sein Beruf, den Leuten ihre Sünden zu vergeben. Da muss man schon schmunzeln, wenn nicht laut lachen. Nach wie vor. Auch als er dem Hausherrn die Grasbüschel aus den Haaren friemelt, die vom Techtelmechtel im Garten übrig geblieben sind.
Die illustre Runde wird famos gespielt von einem feinen Ensemble, unter anderem sind Fernando Rey, Delphine Seyrig, Stéphane Audran und Bulle Ogier zu sehen. Diese absurde Komödie ist und bleibt ein zeitloses Vergnügen von der ersten bis zur letzten Filmszene.
WF