Als Jean-Claude Grumbergs "Das kostbarste aller Güter" 2021 für den deutschen Jugendbuchpreis nominiert war, fragte die "Jüdische Allgemeine" zurecht: "Ein Märchen über ein kleines Bündel Mensch, das aus einem Zug nach Auschwitz geworfen wird?"
Tatsächlich beginnen Film und Buch in märchenhaftem Ton – mit dem Satz: "Es lebten einmal in einem großen Wald eine arme Holzfällersfrau und ein armer Holzfäller." Die Frau wünscht sich sehnlichst ein Kind, kann aber keine bekommen. Jeden Tag pilgert sie durch den Schnee und betet an einem täglich passierenden Zug, der lautstark durch den Wald schneidet, für ein Wunder. Genau das geschieht – aus ihrer Sicht: Eines Tages wird ein Säugling aus dem Zug geworfen. Es ist die Verzweiflungstat eines französischen Vaters, der in eben diesem Zug nach Auschwitz deportiert wird. Die Frau will das kleine Mädchen aufziehen – aber ihr Mann vermutet, es sei ein Kind der "Teuflischen". So haben sie es gelernt – dass in diesen Zügen der Feind lauert. Nach und nach weicht der märchenhafte Ton jedoch immer mehr in die harte Realität und wird auch in der Benennung der Dinge konkreter. Im letzten Drittel des Buchs liest man zum Beispiel Sätze wie diesen: "Der Güterzug, der von der Bürokratie des Todes die Bezeichnung Konvoi 49 erhalten hat und am 2. März 1943 am Bahnhof Bobigny bei Drancy an der Seine abgefahren ist, erreicht am Morgen des 5. März das Herz der Hölle, die Endstation."
Jean-Claude Grumberg ist Schriftsteller, Schauspieler Dramatiker und Drehbuchautor. Als "Das kostbarste aller Güter" zuerst veröffentlicht wurde, fragten sich viele zurecht: Darf der das? Ein Märchen über den Holocaust erzählen? Der französische Regisseur Michel Hazanavicius, der jetzt seine sehr gelungene Animationsverfilmung der Geschichte in die Kinos bringt, sagte uns im Interview auf diese Frage: "Ja. Er darf das. Es ist seine Geschichte. Er hat immer über dieses Thema geschrieben. Sein Vater wurde deportiert und in Auschwitz getötet. Wenn es eine Person gibt, die ich diese Art von Geschichten zutraue, dann ihm."
Grumbergs Vater – ein rumänischer Jude, der vor dem zweiten Weltkrieg nach Frankreich emigrierte – wurde nach dem Einmarsch der Wehrmacht deportiert, der junge Jean-Claude konnte mit seiner Mutter ins unbesetzte Vichy-Frankreich flüchten. Grumberg ist außer dem seit Jahren sehr eng mit der Familie Hazanavicius verbunden. "Er ist der beste Freund meiner Eltern, seit sie 16 waren. Ich kannte ihn also schon immer", erzählt Regisseur Michel Hazanavicius.
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Das Buch war es schließlich auch, das Hazanavicius überzeugte, diesen Film zu machen. Er habe nie einen Film über die Schoa machen wollen, erzählt er uns. "Ich fühlte mich nicht dazu legitimiert. Die Schoa betraf vor allem meinen Großvater. Meine Eltern konnten sich im besetzten Frankreich verstecken, aber ich bin im Paris der 70er und 80er aufgewachsen. Meine Jugend war das Paradies." Er habe auch nie Filme über den Holocaust geschaut, denn: "Ich glaube, ich weiß, was ich fühlen soll, was ich denken soll. Es ist, als ob ich den emotionalen Weg schon kenne, bevor er beginnt."
Aber dieses Buch sei ganz anders gewesen als alles, was er vorher über das Thema gesehen und gelesen hatte. "Weil es ein Märchen ist, das der Geschichte eine universelle Tragweite verleiht. Und plötzlich ist es keine Geschichte über Juden, Deutsche oder Polen mehr. Es geht um die Archetypen des menschlichen Wesens." Es habe die tröstliche Botschaft: "Selbst, wenn die Welt um dich herum moralisch vor die Hunde geht, hast du immer die Wahl, ein guter Mensch zu sein."
Der zweite Grund sei gewesen, dass Hazanavicius nie einen Weg gefunden habe, mit seinen Kindern über dieses Thema zu reden. Seine Frau habe dann einmal zu ihm gesagt: "Sie wissen gar nicht so viel darüber. Und wenn das schon bei den Enkeln einer von der Schoa betroffenen Familie so ist – wie ist es dann erst bei den anderen? Du musst diesen Film machen."
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Michel Hazanavicius Film vermittelt nun in einem anderen Medium, was bereits das Buch bei vielen jungen Leser:innen schaffte. Der Regisseur beschreibt es so: "Wenn man mit Kindern über diese Geschichte spricht, will man sie nicht belügen, aber auch nicht traumatisieren. Man muss also einen feinfühligen und taktvollen Weg finden, um einfach zu sagen: ‚Es ist etwas Unerträgliches passiert. Ich habe es für dich erträglich gemacht, aber es ist passiert.‘ Wenn sie dann mehr darüber wissen wollen haben sie ihre Eltern, Dokumentarfilme, Bücher – aber das ist dann nicht mehr meine Mission."
Das kostbarste aller Güter von Michel Hazanavicius startet am 6. März in den deutschen Kinos.
Daniel Koch