Harald Schmidt redet dieser Tage viel Quatsch der unguten Sorte, aber man darf ja nicht vergessen, dass er viele Jahre ziemlich on point und auf der Höhe war. Als er kurz nach der Berlinale-Premiere von Good Bye, Lenin! im Jahr 2003 Hauptdarsteller Daniel Brühl zu Gast hatte, sagte Schmidt, man merke ja schnell, "wenn die Temperatur eines Films stimmt." Dass diese bei Wolfgang Beckers Film stimme, habe er schon nach ein paar Szenen gesehen.
Die Temperatur von Good Bye, Lenin! liegt ziemlich exakt bei den Werten, die der erste Berliner Frühlingstag hat, an dem man in T-Shirt und ohne Jacke rausgehen kann. Es ist ein Feelgood Film – und auch, wenn dieser Begriff oft Hate abbekommt, benutzen wir ihn hier als höchstes Kompliment. Vor allem, weil Good Bye, Lenin! diese Wärme mit Witz, Weisheit, aber auch Trauer, Politik und Drama erzeugen kann.
Sollte jemand in den letzten Jahren im Koma gelegen und verpasst haben, worum es in Good Bye, Lenin! geht, hier noch einmal kurz die sehr amüsante Prämisse: Daniel Brühl spielt einen jungen Mann namens Alexander Kerner. Seine Mutter Christiane (Katrin Sass) ist glühende Sozialistin, seitdem ihr Mann die Familie vor einigen Jahren gen Westdeutschland verlassen hat. Als sie zu einer großen SED-Party zum 40. Jubiläum der DDR in den Palast der Republik fahren will, sieht sie bei einer Demonstration, wie ihr Sohn von der Polizei verhaftet wird. Sie hat einen Herzinfarkt, fällt ins Koma und wacht einige Wochen später wieder auf. Christiane verschläft also die Wiedervereinigung. Da die Ärzte einen zweiten Infarkt fürchten und Alex und seiner Schwester sagen, dass ihre Mutter jegliche Aufregung vermeiden sollte, spielen sie ihr vor, dass die DDR weiterhin existiert. Als dann aber seltsame Dinge passieren – zum Beispiel das Aufhängen eines Coca-Cola-Plakats am Haus nebenan oder der Zuzug junger Nachbarn aus Wuppertal –, erfindet Alex mit seinem Kollegen Denis (Florian Lukas) ein eigenes Narrativ und die beiden drehen herzerwärmend witzige "Fake News" wie diese:
Wolfgang Becker und sein Cast schaffen es dabei, alle kritischen Punkt perfekt zu temperieren. Becker bedient einerseits die schon damals um sich greifende Ostalgie mit Produktplatzierungen wie den guten, alten Spreewaldgurken, für die Alex auch schon mal durch die halbe Stadt jagt. Er zeigt die Verlockungen des westlichen Kapitalismus, denen sich die ehemaligen DDR-Bürger*innen nur zu gerne hingaben – aber auch, wie diese vor allem mit Gier in eine Stadt gedrückt wurden, die den westlichen Tricksern noch nicht gewachsen war. Er zeigt das auf eigene Weise schöne DDR-Berlin (das man rund um das Kino International heute noch immer ein Stückweit erleben kann), aber auch die tristen, verfallenen Ecken. Er zeigt die sozialistischen Rituale, die vielen Menschen Wärme und Halt gaben – aber auch die Bespitzelung und die Erpressung eines Regimes, das mit hehren Zielen gestartet sein mag, diese aber schnell gegen Autorität, Paranoia und Propaganda tauschte. Und Wolfang Becker zeigt die wohl schönste Fellini-Referenz, die das deutsche Kino in den letzten Jahren gesehen hat.
Dabei vergisst man schnell, dass Wolfgang Becker zwar in Berlin lebt, aber eindeutig ein "Wessi" ist. Da wundert es gleich doppelt, dass Good Bye, Lenin! Menschen aus dem ehemaligen Osten ebenso begeisterte wie den Rest des Landes – in einer Zeit, als die ersten Spannungen durch den im Rückblick an vielen Stellen nicht wirklich fairen Wiedervereinigungsprozess schon überall spürbar waren.
Becker erklärte 2003 in einem Interview mit dem Magazin "Planet Interview": "Wenn man als West-Regisseur einen Film macht, der nicht nur von der DDR-Geschichte, sondern auch von der Lebensbefindlichkeit der Bürgern in der Ex-DDR berichtet, dann muss man über diese Zeit schon etwas genauer Bescheid wissen, denn da kann man sich leicht blamieren. Die Dinge der Alltagskultur, wie die knappen Lebensmittel oder das DDR-Fernsehen, die im Film ja eine große Rolle spielen, waren relativ einfach zu recherchieren. Schwieriger war es dagegen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie das eigentlich war, in so einem Land gelebt zu haben, dort aufgewachsen zu sein, seine Jugend dort verbracht zu haben. Und wie war das Lebensgefühl eines 20-Jährigen zum Zeitpunkt des Mauerfalls? Solche Dinge kann man ja nicht rein faktisch recherchieren, man muss sie eher sinnlich recherchieren. Deshalb haben wir, der Autor Bernd Lichtenberg und ich, uns mit vielen Leuten getroffen, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung so alt waren wie unsere Hauptfigur und haben uns deren Geschichten erzählen lassen. Dadurch bekamen wir schließlich ein sicheres Gefühl beim Drehen. Außerdem waren im Filmteam einige Leute, die lange in der ehemaligen DDR gelebt haben – die hätten interveniert, wenn etwas nicht gestimmt hätte."
Good Bye, Lenin! wurde einer der erfolgreichsten deutschen Filme des Jahres und auch im Ausland gefeiert. Obwohl der Film sehr spezielle deutsch-deutsche Dinge erzählt, spürt man eben auch ohne das detaillierte Hintergrund-Wissen die angenehme Temperatur dieses Films, die auch heute noch zu Tränen rührt. Sogar außerhalb des DDR-Kontexts wärmen sich junge Menschen an Worten aus diesem Film. So konnte man im letzten Jahr einen TikTok-Trend beobachten, der zwar ein wenig sehr kitschig wirkte, aber im Grunde doch ganz süß war. Dabei filmte man Szenen seines Berliner Sommers und legte einen kleinen Monolog von Alex darunter, der eigentlich den Wendesommer meint – aber eben auch in der Jetztzeit gut passt, wenn man als Teenager*in gerade diese große und nun in alle Richtungen offene Stadt für sich entdeckt.
@misspius_ gar nicht so schlimm hier #berlin #berlinsummer #goodbyelenin #goodbyeleninedit #summer #aesthetic #fyp #summervibes #nostalgia ♬ Sommer in Berlin_Good Bye Lenin - RUDYA
Der schönste Verdienst, der vielleicht am ehesten dafür sorgt, dass man mit feuchten Augen und warmen Herzen in den Abspann geschickt wird, ist, dass Good Bye, Lenin! der DDR einen würdevollen Abschied ermöglicht. In der letzten "Nachrichtensendung", die Denis und Alex produzieren, tritt Erich Honecker zurück und der Kosmonaut Siegmund Jähn wird neues Staatsoberhaupt. In seiner Rede an die Nation erklärt er: "Sozialismus, das heißt nicht, sich einzumauern. Sozialismus heißt auf den anderen zuzugehen, mit dem anderen zu leben, nicht nur von einer besseren Welt zu träumen, sondern sie wahr zu machen. Ich habe mich daher dazu entschlossen, die Grenzen der DDR zu öffnen."
DK