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Dogtooth: Die Bedeutung der Bedeutung

Auf den Hundezahn gefühlt: Vom Horror der Sinnfrage in Dogtooth und anderen Filmen des Giorgos Lanthimos

25. Oktober 2024

Wenn Vergleiche in der Filmwelt hinken, dann liegt das auch am üblichen Splatterkino der Kritik, die stets neue sprachliche Bilder bemüht, um die Bilder auf der Leinwand zu bewerten – und die ihre Sujets des Öfteren vorgeblich mit der feinen Klinge, tatsächlich jedoch eher mit der Axt bearbeitet. Auch für die Filme von Giorgos Lanthimos werden gern die schärfsten Metaphern, Referenzen und Analogien herangezogen, schließlich hat man es hier mit einem ungewöhnlichen Werk zu tun, das in keine Schublade passen mag, wenn man es nicht in mundgerechte Portionen schneidet. So schrieb ein Kritiker über das an Euripides‘ Tragödie "Iphigenie in Aulis" angelehnte Drama The Killing Of A Sacred Deer (2017), es handele sich um eine Version von Saw fürs Arthouse-Publikum.

Grausame Spiele

Wahr ist, dass der harte Surrealismus von Lanthimos auch ohne viele explizite Gewaltszenen ein dauerhaftes Gefühl der Unbehaglichkeit erzeugt. Das kommt einer körperlichen Gewalterfahrung wiederum recht nahe. Der psychologische Clou dahinter ist nicht nur im Fall von The Killing … auf die Bösartigkeit zurückzuführen, mit der Lanthimos‘ Figuren gezwungen werden, sich auf ein grausames Spiel einzulassen. Es wäre keine Übertreibung, dies ein Signature-Thema von Lanthimos zu nennen – und sicher auch kein Fehler, es als roten Faden zu bezeichnen, der in seinem Werk voller Horrorgeschichten die Blutspur ersetzt. Vom ersten Spielfilm My Best Friend (2001) bis zur Oscar-prämierten und mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichneten "Frankenstein"-Variation Poor Things (2023), worin die Kreatur Bella sich von der Grausamkeit ihres Schöpfers emanzipiert, Bellas Existenz aber bis zum Schluss unheimlich bleibt.

© © 2009 BOO PRODUCTIONS GREEK FILM CENTER YORGOS LANTHIMOS HORSEFLY PRODUCTIONS - Copyright XXIV All rights reserved.

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Unheimlicher wird es noch, wenn wir uns die Frage nach dem Sinn hinter dem grausamen Spiel stellen. Warum etwa wird das Ehepaar Murphy in The Killing Of A Sacred Deer vor die Wahl gestellt, eins ihrer Kinder zu töten, um das andere zu retten, so wie Agamemnon einst gezwungen war, das Blut seiner Tochter Iphigenie für die Befreiung Trojas zu vergießen? Welche gewaltige Schuld und welche Rachsucht biblischen Ausmaßes stecken dahinter? Und weshalb stellt Giorgos Lanthimos mit dieser Geschichte unsere Nerven auf die Probe, ohne auf dem Regiestuhl mit der Wimper zu zucken? Wählt er die kaltblütige Inszenierung, um uns daran zu erinnern, dass schon die Götter der alten Griechen fürchterliche Opfer von den Menschen verlangten, ähnlich wie wir den Dynamiken des heutigen Kapitalismus Tribut zollen? Oder möchte er einfach unterstreichen, dass Märchenerzähler ihr Publikum seit jeher zu schocken pflegen, und dass Spielregeln immer von Menschen erdacht werden, während das Schicksal sich an keine Vorgaben hält?

Sprechende Tiere

Mit seinem dritten Spielfilm, dem märchenhaften Dogtooth (2009), in dem die Eltern die Rollen der bösen Hexe übernehmen und aus den eigenen Kindern so etwas wie sprechende Tiere machen (ein Thema, das er mit Poor Things wieder aufgreifen sollte), lenkte Lanthimos die Aufmerksamkeit der internationalen Filmfans und der Kritik auf sich, erntete Begeisterung und provozierte das übliche Verweisgemetzel. Gleich wurden Namen von Kollegen wie Michael Haneke oder Lars von Trier in den Ring geworfen, um ihn einzuordnen.
Aber selbst hinkende Vergleiche führen manchmal ans Ziel. Mit den Filmen Lars von Triers weist das Werk des Griechen jedenfalls interessante Parallelen auf, und auch die Haneke-Assoziation ist nachvollziehbar.

Wobei es schon oberflächlich gesehen einen Unterschied zum Ansatz des Österreichers gibt: Bei Haneke geht es stets um die bürgerliche Blase, die durch eine Gefahr von außen bedroht wird, wohingegen die Milieus in Lanthimos-Filmen meist hermetisch geschlossen sind. Hanekes Leitmotiv sind Türen, hinter denen die bürgerliche Gesellschaft sich in ihren Safe Spaces verschanzt. Ihr größtes Problem: Schlösser und Riegel können die Paranoia nicht abhalten und verstärken sie noch. Bestes Beispiel ist der Thriller Funny Games (1997), dessen sarkastischer Titel – ein Euphemismus für "Folter" – Lanthimos immerhin inspiriert haben dürfte. Haneke spielt in Funny Games mit den Bedeutungsebenen des Begriffs, spannt natürlich auch das Publikum auf die Folter. Dabei bearbeitet er sein Sujet nur vordergründig mit der Axt, tatsächlich geht er mit feiner Klinge vor. Sie wissen schon, Saw fürs Arthouse-Publikum.

© © 2009 BOO PRODUCTIONS GREEK FILM CENTER YORGOS LANTHIMOS HORSEFLY PRODUCTIONS - Copyright XXIV All rights reserved.

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So dürfte Haneke die zwei bösen Buben aus Funny Games, die höflich durch die Tür eintreten, um einer Familie das Leben zur Hölle zu machen, der Ästhetik des modernen Filmklassikers A Clockwork Orange (1971) entlehnt haben. Es handelt sich also nicht nur um Fleisch gewordene Angstphantasien braver Bürger in einer immer gewaltbereiteren Gesellschaft Ende des 20. Jahrhunderts, die beiden Folterknechte sind auch so etwas wie entfernte Wiedergänger der "Droogies" aus Stanley Kubricks Beethoven-untermalter Parabel von Gewalt und Gegengewalt. Eine cineastische Referenz, die uns vergegenwärtigt, dass wir im Kino sitzen und zum Glück nur mit offenen Augen alpträumen. Dadurch erhält Hanekes Drastik aufklärerische Funktion, anders als die Filmsequenzen in A Clockwork Orange, die bekanntlich dem Zweck der Gehirnwäsche dienen (was Kubrick in seinem Film im Sinne der Aufklärung beflissen als Folter darstellt).

Unglaubliche Geschichten

Die Vorzeichen der Wahrnehmung von Gewalt innerhalb und außerhalb des Kinos haben sich mit der Zeit geändert. Die literarische Vorlage zu A Clockwork Orange von Anthony Burgess stammt aus den 1960er-Jahren und zielte noch auf das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und jugendlicher Lust am Exzess. Heruntergebrochen: Die repressiven Staatsapparate und die Rebellion stecken in einem Teufelskreislauf fest. In Hanekes Funny Games stellt die Sinnlosigkeit der Gewalt dagegen schon längst ein Bild des Schreckens dar, das der Zeitgeist an die Wände bürgerlicher Wohnzimmer malt, während der Staat nur hilflos zuschauen kann, wie dieses Schreckensszenario allmählich Wirklichkeit wird. Bei Lanthimos schließlich ist die Gewalt bereits überall zuhause. Zum Beispiel in Familienverhältnissen, die nach Vorstellungen organisiert sind, die mit dem Rest der Welt offenbar nicht mehr kompatibel sind. Vor der Tür einer solchen Familie lauern denn auch keine Verbrecher, sie führt ja selbst eine Art kriminelle Geheimexistenz.

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Willkommen in der bizarren Welt von Dogtooth, in der weder böse Buben noch staatliche Institutionen nötig sind, um Gewalt auszuüben. Das können Mutter und Vater schon ganz allein, und ihre Sprösslinge ahmen sie gewissenhaft nach. Dogtooth handelt von einem Ehepaar, das seine drei Kinder nicht bloß von der Außenwelt abschottet und in einem großen Haus samt Grundstück hinter einer hohen Mauer aufwachsen lässt – es belügt sie auch über das Wesen der Welt. Die elterlichen Methoden für die bewusste Täuschung der Kinder werden minutiös vorgeführt, die Motivation hinter Isolation und Irreführung des eigenen Nachwuchses bleibt schleierhaft. Einfach skurril, das Ganze? Nun, das Verhalten erscheint gar nicht so unrealistisch, weil derartige Zustände Ende der Nullerjahre längst kein Fantasy-Szenario mehr sind. Kurz vor der Entstehung von Dogtooth kamen gleich mehrere wahre Geschichten ans Licht, in denen Kinder von Erwachsenen tatsächlich als Gefangene gehalten wurden.

Zersplitterte Gesellschaft

2008 wurde der Fall des Josef Fritzl bekannt, der seine Tochter über 20 Jahre lang in einem unterirdischen Verlies eingekerkert, sie dort vergewaltigt und geschwängert hatte. Zwei Jahre zuvor war Natascha Kampusch – ebenfalls in Österreich – ihrem Kidnapper entkommen, der sie im Alter von zehn Jahren entführt und acht Jahre lang in seiner Gewalt behalten hatte. Auch hier diente ein Geheimverschlag als Versteck. Der Weg von diesen Horrorszenarios aus den Nachrichten zur Filmhandlung von Doogtooth ist nicht allzu weit. Die Raffinesse, mit der die Eltern aus dem Film ihre Kinder in einer Parallelwelt aufwachsen lassen, erinnert allerdings noch stärker an eine Glaubensgemeinschaft, die sich aus dem Bannkreis des bürgerlichen Realismus verabschiedet hat. Diesen Bezug zu spirituellen Communities, die spätestens seit den 1960er Jahren weltweit als Massenphänomen auftreten, legt allein die Reduzierung der Figuren auf ihre jeweiligen Rollen nahe: Vater, Mutter, Sohn, jüngere Tochter, ältere Tochter. Das hat Sekten-Charakter. Einen bürgerlichen Namen trägt lediglich die von draußen kommende Christina. Allerdings gibt es keine erkennbare Lehre, die hinter dem Kult stecken könnte. Um dessen Wurzel zu finden, muss man etwas mehr in die Tiefe gehen.

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Das Skript zu Dogtooth verfasste Giorgos Lanthimos zusammen mit dem Autor Efthymis Filippou. Die beiden trafen damit vor 15 Jahren den Nerv der Zeit. Heute kann man getrost feststellen, dass es seiner Zeit zugleich voraus war. Die Kinder im Film, denen die herrschende Realität vorenthalten wird und die zumindest das europäische Publikum an die real existierenden Kellerkinder aus Österreich erinnert haben könnten, sind die eine Sache. Noch wichtiger für das Verständnis ist aber der Kniff von Lanthimos und Filippou, die Handlung von Dogtooth in die 1980er-Jahre zu verlegen. Mal abgesehen von den nostalgisch stimmenden Rocky- und Flashdance-Zitaten: Wenn sich heute eine zunehmende Zersplitterung der Gesellschaft in immer kleiner werdende Parzellen feststellen lässt, dann liegt das auch am Neoliberalismus, der in den 1980er-Jahren als politische Ideologie Fahrt aufnahm – gepusht von Verfechterinnen wie Margaret Thatcher, die zwischen 1979 und 1990 britische Premierministerin war. Mit ihrem Credo "There is no such thing as society" prägte die Eiserne Lady die 1980er als Epoche der entfesselten Märkte, der Verleugnung staatlicher Verantwortung für das Gemeinwesen und der daraus resultierenden Vereinzelung. Jenseits von Marktlogik und ökonomischer Vernunft bietet eine derart unsoziale Gesellschaftsform nicht viel Sinnstiftendes.

Soziale Inseln

Das Leben im ewigen Wettbewerb gilt heute als normal. Es ist die Religion, an die viele glauben, ohne sie überhaupt zu kennen. Eine unsichtbare zweite Natur oder auch: eine Herdenbewegung, die seelischen Mehrwert vermissen lässt. Die menschliche Suche nach dem übergeordneten Sinn wurde in der neoliberalen Lebenswirklichkeit dafür in eine wachsende Bedeutungs- und Bewusstseinsindustrie outgesourct, die das richtige Leben im Falschen, wie es in der altmodischen Philosophie nach Adorno so knallhart heißt, mittlerweile in allen möglichen Varianten verkauft – inklusive diverser Zugehörigkeitsgefühle. Der Markt schafft immer spezifischere Bedürfnisse, die er auch gleich zu befriedigen verspricht, und die Welt zerfällt zusehends in Mikrokosmen. Wenn man genau hinschaut, sind sich die meisten dieser sozialen Inseln aber darin ähnlich, dass sie die üblichen Machstrukturen als Rahmenbedingungen ihres Daseins nicht infrage stellen und sie sogar reproduzieren. Es gibt vielleicht kein richtiges Leben im Falschen – aber ein anderes. Bitte nicht verwechseln mit der grundsätzlichen Weigerung alter weißer Männer und Frauen, nicht-binäre, schwarze oder postkoloniale Perspektiven anzuerkennen.

© © 2009 BOO PRODUCTIONS GREEK FILM CENTER YORGOS LANTHIMOS HORSEFLY PRODUCTIONS - Copyright XXIV All rights reserved.

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Die Herstellung von "Normalität" in Dogtooth könnte aber auch unter diesem Aspekt als alltäglicher Vorgang betrachtet werden, der Verhaltensmuster aus gewöhnlichen Familien spiegelt. Zum Beispiel Abende, in denen man beisammensitzt und sich alte Videoaufnahmen aus dem Privatarchiv ansieht, die alle Beteiligten längst auswendig kennen. Weiter oben war im Bezug auf Dogtooth die Rede von Eltern, die ihre Kinder wie böse Hexen aus Märchen zu so etwas wie sprechenden Tiere erziehen. Aber werden nicht alle Kinder "erzogen" und sind sie nicht abhängig von den Überzeugungen derjenigen, die zwischen Welt und Wahrnehmung vermitteln? Wie sieht es aus, wenn diese Vertrauenspersonen, die in Kinderaugen über magische Kräfte verfügen, ihre Machtpositionen ausnutzen, ähnlich wie es in anderen gesellschaftlichen Bereichen üblich ist? Man denke an Arbeitsverhältnisse. Und wenn einem überzeugend beigebracht wird, dass eins und eins drei ergibt, oder dass die Vorgesetzten zurecht das das Doppelte verdienen, glaubt man nicht auch fest daran? Besteht das Leben nur aus Manipulation und Konditionierung? Mit Dogtooth gesprochen: Kann man Menschen abrichten wie Hunde?

Übersinnliche Dimension

Doch es steckt mehr in der strengen Versuchsanordnung, die Lanthimos hier inszeniert. Das zeigt sich auch im Vergleich mit den bereits erwähnten Regisseuren. Wenn Michael Haneke Dogtooth gedreht hätte, würde sich das absurde Familienleben hinter der Mauer normaler, die Normalität jenseits der Mauer dagegen bedrohlicher darstellen. Überträgt man das Gedankenspiel mit Haneke als alternativem Regisseur auf Lanthimos‘ The Killing Of A Scred Deer, sieht die Sache nicht viel anders aus. In diesem Lanthimos-Film tritt die Bedrohung einer Familie zwar durch eine äußere Gewalt à la Haneke in Erscheinung – der Junge, dessen Vater während der von Professor Murphy durchgeführten Herzoperation stirbt, schwört Rache und ersinnt ein grausames Spiel, das an die griechische Mythologie erinnert. Aber die Nagelprobe für die Murphys gleicht dann eher einer Selbstreinigung von übersinnlicher Dimension. Es handelt sich um einen innerfamiliären Exorzismus. Diese und andere Wendungen in Lanthimos‘ Filmen enthüllen ein phantastisches Moment, das Kollegen wie Haneke oder von Trier zwar auch nicht ganz fremd ist, jedoch würde sich keine ihrer Figuren jemals in einen Hummer verwandeln oder Menschen allein durch Willenskraft lähmen. Dazu fehlt ihnen der surreale Märchen-Touch.

© © 2009 BOO PRODUCTIONS GREEK FILM CENTER YORGOS LANTHIMOS HORSEFLY PRODUCTIONS - Copyright XXIV All rights reserved.

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Die mythischen Abgründe von The Killing Of A Sacred Deer erinnern am ehesten an Birth (2004) von Jonathan Glazer. Im zweiten Spielfilm Glazers, der zuletzt mit dem Auschwitz-Drama The Zone Of Interest (2023) polarisierte – das man ohne Wissen um den Namen des Regisseurs wiederum durchaus für ein Werk von Lanthimos halten könnte –, taucht der zehnjährige Sean im Leben einer Frau namens Anna auf und behauptet, die Reinkarnation ihres verstorbenen Ehemannes zu sein. Dieser Junge aus Birth ist kaum weniger gruselig als der kleine Dämon aus The Killing Of A Sacred Deer. Die grausamen Spiele, die die beiden jeweils mit den anderen Filmcharakteren treiben, hätte sich auch Lars von Trier ausdenken können. Dessen Filme lassen Menschen oft wie Labormäuse erscheinen. Zum Beispiel in Idioten (1998) über eine Gruppe, die sich als ein Haufen Außenseiter inszeniert, bevor alle reumütig in ihre bürgerlichen Leben zurückkehren. Derweil übernimmt Nicole Kidman sowohl in Glazers Birth als auch in Lanthimos The Killing … eine tragende Rolle. Überschneidungen, wohin man schaut. Doch gibt es ein bedeutendes Element in der Arbeit von Lanthimos, das ihn von Lars von Trier, Michael Haneke oder auch Jonathan Glazer abhebt. Es ist nicht der Mut zum Experimentellen, der sie alle auszeichnet. Lanthimos pflegt als einziger einen Humor, der sich als Satire auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen verstehen lässt.

Tierische Komik

Der Satiriker Lanthimos zeigt sich in Dogtooth bereits in der Anfangssequenz, in der die Kinder im Homeschooling mit Hilfe eines Kassettenrekorders Vokabeln beigebracht bekommen. Es handelt sich um Neudefinitionen von Begriffen, die in der gegenwärtigen Bedeutungs- und Bewusstseinsindustrie allesamt ein Freiheitsversprechen transportieren. Das Meer als universeller Sehnsuchtsort wird zum Stuhl mit hölzernen Armlehnen, die Autobahn als Inbegriff individueller Mobilität zum heftigen Wind, die Exkursion als spannender Bildungsausflug zum widerstandsfähigen Material, und der Karabiner, mit dem sich Hindernisse überwinden ließen, zum schönen weißen Vogel. In diesen Erklärungen der Eltern, die verhindern sollen, dass sich ihre Kinder ein Bild von der freien Welt jenseits der Mauer machen können, steckt ein beißender Kommentar des Regisseurs auf unser gängiges Verständnis dieser Welt und ihrer Freiheiten. Dazu scheint in den konzentrierten Gesichtern der paukenden Kinder auch gleich eine Spur jener Situationskomik auf, die sich an bestimmten Stellen in Lanthimos‘ Filmen gerne mal explosionsartig entlädt. In Dogtooth ist der spätere Kampf des Sohnes mit der Katze eine solche Szene, wobei Teile des Publikums dies auch schlicht als schockierend empfinden dürften. Unter Cat Content versteht man heutzutage landläufig doch eher was anderes.

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In The Lobster (2015) treibt Lanthimos den tierischen Witz auf die Spitze. Die internationale Produktion mit den irischen und britischen Stars Colin Farrell, Rachel Weisz sowie Olivia Colman in den Hauptrollen knöpft sich ein zeitgenössisches Minenfeld vor: das Reich der Partnervermittlung. Einsamkeit ist heute eine Volkskrankheit, die Kuppelei ein blühender Geschäftszweig. Was die Perspektive auf die "moderne Welt" angeht, bietet schon »Dogtooth« eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten. In welchem Zusammenhang stehen zum Beispiel die trostlosen Fabrik- und Büroräume der Firma, in der der Vater seinem Job nachgeht, und das kaputte Familieneben? Woher rührt das ausgeklügelte System aus Strafen und Belohnungen, mit dem die Eltern ihre Kinder zum Lernen groben Unsinns animieren, sie im wahrsten Sinn des Wortes "von der Straße fernhalten" und in Konkurrenzdenken üben? Welche Energie steckt hinter den abstrusen Märchen, die Mutter und Vater ihnen in Bezug auf den angeblich verschollenen zweiten Bruder oder die Gefahren durch Katzen auftischen? Sind die Flugzeuge, die vom Himmel fallen, eine Anspielung auf damals bereits im Umlauf befindliche Verschwörungstheorien wie die der Flat Earth Society?

Zweifelhaftes Glück

The Lobster entfaltet sein zeitdiagnostisches Potenzial ebenfalls in der Mehrdeutigkeit des absurden Settings. Dahinter steckt wieder das Autorenduo Lanthimos/Filippou. Das rabiate Dating-Format, um das es in diesem neuerlichen Laborversuch vordergründig geht – Singles haben 45 Tage Zeit, in einem Hotel eine/ Partner*in zu finden, bevor sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt werden, sofern ihre Suche nicht von Erfolg gekrönt ist –, trifft sich mit dem Look & Feel von Survival-Formaten aus dem Fernsehen unserer Tage. Die Frist zur Partnerfindung kann verlängert werden, indem man im Wald lebende Singles abschießt und dadurch Punkte sammelt. Der Witz verlagert sich wie in Dogtooth zu einem gehörigen Teil auf die Ebene des gesprochenen Wortes – auf zwischenmenschliche Kommunikation und die Bedeutung, die der Bedeutung an sich zugewiesen wird, ohne dass diese noch mit Inhalten gefüllt wäre, die uns der Wahrheit näherbringen.

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Neben den grausamen Spielen – und um ein grausames Spiel handelt es sich auch bei The Lobster – kristallisiert sich das Bedeutungs-Game als ein weiteres Signature-Thema von Lanthimos heraus. Kurz zusammengefasst: Wie wäre es, wenn wir nicht mehr wüssten, was Glück wirklich bedeutet aber uns gleichzeitig noch vollkommen bewusst wären, dass es sich beim Glück um eine bedeutungsvolle Sache handelt? Ist damit das Leben im 21. Jahrhundert – ob in der Festung Europa, im ganzen globalen Norden oder in Ländern, die unter postkolonialen Traumata leiden – nicht treffend beschrieben?

Dem roten Faden in Giorgos Lanthimos‘ bisherigem Gesamtwerk folgend, müssten Filmfans und Kritik schließlich einsehen, dass man Lanthimos eigentlich nur mit Lanthimos vergleichen kann. Dabei gehört die mechanische Darstellung von Sexualität ebenso zu seinen immer wiederkehrenden Motiven wie ein schwer zu deutender Umgang mit Rollenverteilungen zwischen als Männern und als Frauen gelesenen Personen. Nehmen wir das Patriarchat der Dogtooth-Familie, das von den beiden Töchtern sowie der Mutter latent untergraben wird, oder die Figur der Prostituierten Christina, die neben der Triebabfuhr für den Sohn auch ihren eigenen Bedürfnissen nachgeht. Schließlich wäre da noch die sexuell "befreite" Bella aus Poor Things, die unterschwellig wie eine zum Leben erweckte Vorstellung wirkt, die sich nicht komplett vom männlichen Geist zu lösen vermag, dem sie ihren Ursprung zu verdanken hat. Es sind eben Schauermärchen, die Lanthimos erzählt. Das Schlussbild von Dogtooth legt sogar die märchenhafte Formulierung nah: "Und wenn sie nicht gestorben ist …" Mit der dazugehörigen Frage: " …wie lebt sie heute, die ältere Tochter, die sich den Hundezahn ausschlug, um ihre monströse Familie zu verlassen und die Welt jenseits der Mauer zu entdecken?"

WF

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