Bevor sie in ein Taxi steigt, steigt sie aus einem Privatjet: Victoria Snelling ist in L.A. gelandet – and she's here for business! Kaum ist sie draußen, klingelt ihr Mobiltelefon. Anfang der 90er ein solches zu haben, ist schon ein Statussymbol, aber man erkennt auch an ihrer eleganten Erscheinung, dass sie gut im Geschäft ist. Sie trägt einen stylischen, (nicht zu) kurzen Rock, eine schwarze Strumpfhose, schwarze High Heels, einen Blazer, der links schwarz und rechts weiß ist, und Ohrringe, die trotz der kleinen Diamanten noch einigermaßen dezent rüberkommen. Die blondierten Haare liegen in perfekten Wellen, der Lippenstift strahlt im matten Rot.
Gena Rowlands spielt diese Victoria, als müsse sie gar nicht spielen. Alles wirkt natürlich. Jede Stress-Reaktion, jedes Lächeln, jedes Wort, das sie in den Hörer spricht. Man denkt automatisch an dieses berühmte Zitat von John Cassavetes, mit dem Rowlands mehr als 30 Jahre lang verheiratet war. Er sagte: "Gena ist subtil, zart, sie ist ein Wunder. Sie ist direkt. Und unbeirrbar. Sie kann einfach alles." Cassavetes lernte Rowlands als junge Frau an der Schauspielschule in New York kennen und führte sie in die Welt des Independent-Films ein. Rowlands stand oft für ihren Mann vor der Kamera: Zum Beispiel in Gesichter, dem ersten Cassavetes-Erfolg, in Minnie und Moskowitz, Eine Frau unter Einfluss, oder Gloria, die Gangsterbraut, der ihre eine Oscar-Nominierung einbrachte. Als John Cassavetes 1989 starb, brach es ihr das Herz. Später besetzte auch der gemeinsame Sohn Nick seine Mutter in seinen Filmen – zum Beispiel in Wie ein einziger Tag und in Ein Licht in meinem Herzen. Ach, es steckt so viel Liebe in ihrer Filmographie! Jim Jarmusch schrieb nach Rowlands Tod, sie sei "the greatest ever". Mit ihr an Night On Earth zu arbeiten, sei "ein Geschenk" gewesen und ein "wunderschöner Traum" für ihn.
Gena Rowlands als Victoria Snelling und Winona Ryder als Corky. © STUDIOCANAL
In Night On Earth ist es das Zusammentreffen mit Corky, das uns vollends das Herz für diese Frau öffnet. Victoria Snelling und Winona Ryders Corky fluchen im gleichen Moment ins Telefon. "Shit!", rufen sie – Victoria in ihr Tragbares, Corky in ein Münztelefon. "Brauchen Sie ein Taxi", fragt die jungenhafte, verlottert-lässige Corky. "Ich denke schon", sagt Victoria. Die beiden gehen zu Corkys Taxi – ein 1985er Chevrolet Caprice Classic Wagon. Corky wirft das Gepäck in den Kofferraum. "Seien sie vorsichtig damit", mahnt Victoria. "Ich liebe mein Gepäck ein bisschen." Corky lässt Victoria einsteigen, will zu früh die Tür schließen. "Das Bein bräuchte ich noch", sagt Victoria.
Corky raucht wie ein Schlot, kaut Kaugummi, wirkt wie ein renitenter Teenager, der sich trotzdem bemüht, hier einen guten Job zu machen. Immer wieder schaut sie genervt in den Rückspiegel, bis das Eis langsam bricht, als Victoria mit ihrem Mann spricht und ihm ihr Leid klagt. Der Regisseur, für den sie arbeite, wolle seine Schauspielerin "immer jünger und jünger. Jetzt will er eine Achtzehnjährige, ohne jegliche Erfahrung, aber mit den Nerven eines Fallschirmjägers." Corky dreht die Musik auf, bis Victoria sichtlich überrascht mitten im Telefongespräch fragt: "Könnten sie bitte die Musik leiser drehen?" "Sure, Mom", sagt Corky trotzig.
Corky merkt, dass Victorias Gespräch eher nervig verläuft. Victoria legt auf, schaut eine Weile aus dem fahrenden Auto. Ein schönes Bild, das keine Worte braucht. Corky fragt: "Ist dieser Mr. Kincade Ihr Freund?" Victoria antwortet: "Ja. Zumindest denke ich, dass er das ist." Corky lacht und sagt: "Männer! Man kann nicht mit ihnen leben, aber erschießen will man sie auch nicht." "Das können sie laut sagen", meint Victoria.
Gena Rowlands Victoria ist nun sichtlich interessiert. Es entspinnt sich ein ruhiges, fast mütterliches Gespräch, über Pläne und Träume, über die Gefahren oder Freuden des nächtlichen Taxifahrens. Corky taut auf, verrät, dass sie einen Traumjob habe, obwohl sie es liebe, Taxi zu fahren. "Ich will Mechaniker werden!", sagt sie stolz. Ihre beiden Brüder seien das auch, und die meinten immer, das sei nichts für eine junge Frau – aber was wüssten die schon. Victoria erzählt im Gegenzug, dass sie nachtblind sei und verdreht verwundert die Augen, als Corky forsch fragt: "Kommt das vom Alter?" Eigentlich will sie getroffen sein – aber Victoria lächelt, irgendwie beeindruckt.
Die beiden rauchen zusammen. Corky hektisch, Victoria ruhig, melancholisch, classy, wie sie alles tut. Sie nimmt einen Zug, lehnt sich über die Lehne des Vordersitzes und sagt: "Es geht mich wirklich nichts an, aber sie rauchen zu viel." Ohne, dass Victoria es aussprechen müsste, ahnt man, dass sie Corky ab jetzt in eine Art Casting-Interview verwickelt.
Als die beiden Victorias Hotel in Beverly Hills erreichen, fragt sie Corky, ob sie Lust hätte Schauspielerin zu werden. Wer könnte "nein" sagen, wenn Gena Rowlands einem so etwas anbietet? Corky kann es. "Sie könnten ein Filmstar werden!", ruft Victoria. "Wie, jetzt gleich?", antwortet Corky. "Ich möchte das nicht wirklich. Ich habe einen tollen Job und den will ich nicht verkacken. Das verstehen Sie doch, oder?" Tut Victoria nicht. "Verstehen Sie, was ich Ihnen da gerade anbiete?" "Ja, aber ich bin Taxifahrerin. Das ist mein Job. Und außerdem will ich Mechaniker werden – das haben ich Ihnen doch erzählt." In der vielleicht schönsten Szene des ganzen Films, sagt Victoria: "Ich möchte Sie wirklich nicht zu irgendwas drängen." Sie reibt sich ungläubig das Auge. "Ich möchte nur sichergehen, dass ich verstehe: Sagen Sie mir gerade, dass es Sie überhaupt nicht reizt, ein Filmstar zu sein?" Und Corky sagt: "Nah!" Aber, ruft Victoria: "Jeder möchte ein Filmstar sein!"
Gena Rowlands war ein Filmstar. Auf ihre ganz besondere Weise. Als Corky sich nicht überzeugen lässt, weicht die Ungläubigkeit in Victorias Gesicht einem stummen Respekt. Rowlands Mimik spielt auch das ebenso mühelos, wie alles andere, das sie jemals gespielt hat. Die letzte Szene ist wie ein Abschied in sich: Victoria alias Gena Rowlands steht auf dem Asphalt, schaut dem Taxi nach, hält ihre Handtasche fest, wiegt die Hüfte ein wenig und lächelt. Als sie ihre Koffer greift, um ins Hotel zu gehen, klingelt wieder das Mobiltelefon. "Oh shut up!", sagt sie. Und lässt es klingeln.
So verlässt Gena Rowlands diesen Film. Eine Frau mit schauspielerischer Kraft. Mit Klasse. Mit Eleganz. Mit einer in sich ruhenden Größe. Und so verließ sie auch dieses Leben – hoffentlich in einem Taxi mit guter Gesellschaft, in Richtung Paradies, wo ihr dann der vorgefahrene Ehemann eine Zigarette reicht und sie in die Arme nimmt …
Night On Earth können Sie hier auf ARTHAUS+ schauen.