Es ist vielleicht der zivilisierteste Exodus, den man lange in einer dystopischen TV-Serie gesehen hat: Aufgeräumt nähern sich die Menschenmassen der modernen Architektur eines dänischen Hafens. Ordner geben Richtungsanweisungen. Durchsagen erklären das Prozedere. Strahlend weiße Kreuzfahrtschiffe warten auf die Menschenmassen, die eher melancholisch als anarchistisch gestimmt ihre Reise antreten. Heute, zu Beginn der vierten Folge "Lebwohl, Dänemark", geht es in Richtung Rumänien und Bulgarien. Was in der Welt der Serie Families Like Ours – Nur mit euchs schon viel über den sozialen Status der Reisenden aussagt: Die Wohlhabenderen reisen nämlich eher nach London oder Paris.
Dass hier trotzdem eine dramatische Flucht ansteht und schon die organisierte Kriminalität wartet, um die Verzweiflung dieser Menschen auszunutzen, merkt man nur in einem kurzen Störmoment, als eine ältere Frau und ein zwielichtig ausschauender Mann kurz die hübsche Abiturientin Laura ansprechen. Sie könne jederzeit auf ein Schiff, sie brauche weder Papiere noch Visum. Laura geht irritiert weiter, sie will ja eigentlich nur ihre chronisch-kranke Mutter Fanny zur Fähre bringen. Sie selbst kann mit der neuen Familie ihres Vaters Jakob nach Paris reisen. Eigentlich. Noch beim Abschied beschließt Laura dann aber, ihre Mutter nicht allein zu lassen, weil sie eben krank ist – und ohne Laura völlig allein wäre. Nimm das, Darwin!
In dieser kleinen Szene steckt viel drin, was Thomas Vinterbergs Serie so eindringlich macht: Obwohl er hier ein dystopisches Gedankenspiel wagt, das ein Roland Emmerich mit Explosionen, Riots, schießenden Soldaten und CGI-Fluten inszeniert hätte, bleibt Vinterberg erzählerisch immer ganz nah bei der Familie, die der Serie den Titel gibt. Das Thema Menschenhandel, das unmittelbar mit der Fluchtthematik verknüpft ist, blitzt hier erstmal nur für 30 Sekunden auf – und trifft einen trotzdem mit voller Wucht. Um so mehr, weil Laura das Schiff ihrer Mutter verpasst und später das Angebot der Frau und ihren Schlepperkolleg*innen annehmen muss, um ihr hinterher reisen zu können.
Families Like Ours – Nur mit euch spielt dabei in einer nahen Zukunft. Dänemark muss evakuiert werden, weil der Meeresspiegel unaufhaltsam steigt. Wissenschaftlich akkurat ist das nur bedingt: Ja, große Teile der Welt werden in den nächsten Jahrzehnten absaufen, wenn wir so weiterleben, aber vor Dänemark sind erstmal andere Teile Europas dran. In Vinterbergs Serie erfahren wir nach und nach aber, dass zumindest die Niederländer*innen schon ihr Land verlassen mussten. Auch diese Informationen erreichen uns fast beiläufig, aus Nachrichtensendungen oder Gesprächen innerhalb der Familie, die wir durch die sieben Folgen begleiten. Vinterberg verzichtet dabei größtenteils darauf, panische Szenen aus dem 1:1 des dystopischen Kinos zu zeigen. Seine Dystopie ist auf den ersten Blick fast "hygge" – so nennt man, laut Definition der dänischen Tourismusplattform VisitDenmark, "eine gemütliche, herzliche Atmosphäre, in der man das Gute des Lebens zusammen mit lieben Leuten genießt."
Da war das Leben noch in Ordnung: Laura (Amaryllis August) und ihr Freund Elias (Albert Rudbeck Lindhardt) in der Zeit vor der Evakuierung Dänemarks. © Zentropa Entertainments / StudioCanal / CANAL+ / TV 2 / Photo: Per Arnesen
Aber Families Like Ours – Nur mit euch ist eben nur fast hygge. Denn auch, wenn hier nicht alles in Anarchie, Gewalt und Elend vor die Hunde geht und am Ende der Darwinismus siegt, sind die menschlichen Dramen dieser Flucht durchaus real – einer Flucht, die Menschen trifft, die nie im Leben damit gerechnet hätten, dass ausgerechnet "sie" dieses Schicksal mal erwischt. Schon in der ersten Folge wird das deutlich: In Lauras Gymnasium wird eine Konferenz einberufen, nachdem die dänische Regierung gerade die geplante Evakuierung verkündet hat. Die Schuldirektorin erklärt, was das nun konkret bedeutet und sagt, die dänische Regierung wolle schnell handeln, "bevor Europa möglicherweise beginnt, seine Grenzen für Flüchtlinge, Migranten und Familien wie unsere zu schließen." Hier schwingt noch die internalisierte Überheblichkeit der Menschen aus wohlhabenden Ländern mit – ganz selbstverständlich macht sie diese neue Kategorie "Familien wie unsere" auf, obwohl alle Dänen in diesem Szenario zu Geflüchteten und Migrant*innen werden. Spätestens als Lauras Freund in Folge 5 Opfer eines brutalen Pushbacks in Polen wird, dürfte diese Unterscheidung aber passé sein, verbunden mit der Erkenntnis: Auch "Familien wie unsere" kann dieses Schicksal treffen – und dann rächt es sich vielleicht, dass man aus einem ehemals wohlhabenden Land stammt, das zeitweise eine sehr harte Grenz- und Asylpolitik gefahren hatte.
Nikolaj (Esben Smed) und sein Mann Henrik (Magnus Millang) sind die Reichsten in der Familie – was ihnen aber auch nicht viel bringt. © Zentropa Entertainments / StudioCanal / CANAL+ / TV 2 / Photo: Per Arnesen
Die Anfänge der Serie liegen dabei im Jahr 2017, als Thomas Vinterberg noch nicht seinen Oscar für Der Rausch bekommen hatte. Zu dieser Zeit wurde Dänemark von dem rechtsliberalen Lars Løkke Rasmussen und seiner Venstre-Partei regiert. Eine populistisch agierende Regierung, die vor allem gegen Geflüchtete Stimmung machte. So feierte zum Beispiel die sogenannte Integrationsministerin Inger Støjberg ihre 50. Verschärfung des Ausländerrechts bei Facebook mit einer Jubiläumstorte. Später, zur 89. Verschärfung diktierte sie der Presse: "Ich will Dänemark unattraktiv für Asylsuchende machen." Man kann davon ausgehen, dass diese Stimmung auch ein Auslöser war, sich dem Thema zu widmen.
Thomas Vinterberg erzählte aber kürzlich dem Magazin epd Film, dass eher ein privater, weniger dramatischer Moment sein Interesse an der Geschichte weckte: "Vor sieben Jahren war ich für einige Monate in Paris, um dort zu arbeiten. Paris wimmelt nur so von Ausländern. Darauf reagiert die Stadt, indem sie diese nicht länger willkommen heißt. Ich war einer dieser Ausländer, ich wurde nicht wirklich willkommen geheißen. Auch nachdem ich dasselbe Café zwei Monate lang besucht hatte, wussten sie nicht, wer ich bin und wollten es gar nicht wissen – sie hatten kein Interesse daran. Es war ein Sonntag und ich vermisste meine Familie sehr. Daraus entsprang dieses Gedankenexperiment: was wäre, wenn wir sie würden? Was, wenn wir alles verlieren würden, das wir lieben, alles, das wir als selbstverständlich ansehen?"
Laura (Amaryllis August) und ihre Mutter Fanny (Paprika Steen) treffen sich im Ausland wieder. © Zentropa Entertainments / StudioCanal / CANAL+ / TV 2 / Photo: Per Arnesen
In Families Like Ours – Nur mit euch gibt es jedoch trotz einer eher düsteren letzten Folge immer wieder Momente der Hoffnung. Und das ist vielleicht der härteste Punch dieser Serie. Dystopische Filmen und Serien lehren uns oft das Recht der Stärkeren. Wir lesen in den Nachrichten von Preppern, die sich bewaffnen und aufs Schlimmste einstellen, um sich durchzukämpfen und von Milliardären, die sich lieber Luxusbunker in Hawaii oder Neuseeland bauen, als das Geld für Lösungen auszugeben, die uns allen helfen. Families Like Ours wiederum rührt immer wieder an der Frage: Was wäre, wenn die Menschheit – oder große Teile davon – die Empathie hätte, auch solche Probleme auf eine Weise zu bewältigen, die zeigt, dass wir alle im Grunde zur gleichen, großen Familie gehören? Wilde Idee, oder?
Families Like Ours – Nur mit euch ist ab sofort digital erhältlich.
DK