Ein riesiger Fötus schwebt im Weltall. Er starrt auf einen kleinen, schmierigen Typen mit Designer-Brille. Als Zuschauer wünscht man sich in diesem Moment, dass der Fötus diesen Dude ins Nasenloch schiebt und einfach von der Bildfläche snifft. Leider bleibt es nur bei einem Blickduell. Warum man so krude Dinge denkt? Weil man bis dahin schon ein paar Dutzend Mal gesehen hat, wie sich jemand was durch die Nase zieht. Und weil es der Typ es verdient hätte: Es ist Octave Parango (Jean Dujardin), der Anti-Held des Films 39,90, der die schöne Kollegin Sophie (Vahina Giocante) verführt hat und ihr nun sagt, sie soll gefälligst abtreiben, wenn sie schon so doof ist, sich von ihm schwängern zu lassen. Was man dort auf dem Fernseher sieht, sind die Dinge, die er sich in seinem Kopf ausmalt. An dieser Stelle weiß man schon, dass Octave später vom Dach des Hochhauses springen wird, in dem sein Arbeitgeber sitzt: die Agentur Ross & Witchcraft – eine der größten im Game.
Man merkt schon hier: 39,90 ist ein fordernder, bisweilen hirnsprengender, oft im besten Sinne anstrengender Film. Was nicht groß wundert, wenn man bedenkt, dass die Buchvorlage des französischen Autors Frédéric Beigbeder ein fordernder, bisweilen hirnsprengender, oft im besten Sinne anstrengender Roman ist. Beigbeder rechnet darin mit seinem damaligen Arbeitgeber ab und zerfetzt ebenso zynisch wie unterhaltsam die Werbebranche, die ihn zwar nicht gerade arm, aber moralisch bankrott gemacht hat. Beigbeder taucht auch selbst immer wieder im Film in diversen Nebenrollen auf und hatte einen genauen Blick auf die Verfilmung des Regisseurs Jan Kounen. Frédéric Beigbeder beschreibt seinen Einfluss so: "Das ist schon ziemlich genial, wenn man die ganze Zeit lang seine Meinung sagen darf. Ich hatte bei Produzent Alain Goldman das Drehbuch-Schreiberduo Bruno und Nicolas durchgesetzt. Es war ihr erstes Drehbuch. Mir fällt kein Beispiel ein, wo sich ein Schriftsteller derart in einen Film einbringen durfte. Das ist Luxus. Ich hatte nur eine einzige Angst, dass wir einen keimfreien, sterilen Film für das große Publikum drehen könnten. Sie haben den Film gesehen, man kann vieles sagen, aber nicht, dass es ein steriler, keimfreier Film für ein breites Publikum geworden ist."
Das stimmt: 39,90 ist von Anfang bis Ende ein wilder Ritt. Schon in den ersten Minuten sieht man nackte Ärsche, ein Stück Kot auf einem Kokainspiegel, einen Hauptdarsteller, der auf eine nackte Frau in einer Badewanne kotzt (immerhin aus Versehen) und den Anti-Helden des Films, wie er von einem Hochhaus in den sicheren Tod springt und auf einen Mercedes kracht. Jan Kounen hat große Freude daran, technisch, ästhetisch und erzählerisch alles reinzuschmeißen, was ihm in den Sinn kommt. Was sehr gut zur auch eher zersplitterten Form der Romanvorlage passt. Kounen erzählt: "Ich bin ein Kind dieser schnellen, lebendigen Welt. Ein Techno-Freak. Im Film habe ich das reaktiviert." Dass die Werbewelt dabei das Ziel von Zynismus, Kritik, Spott und Wut wird, gefiel ihm besonders gut: "Ich bekam die Gelegenheit, dort zu drücken, wo es weh tut, die Blase platzen zu lassen, indem man lacht. Dazu hatte ich Lust."
39,90 erzählt aus dem Leben des erfolgreichen Werbe-Arschlochs Octave Parango, den Jean Dujardin herrlich diabolisch-schmierig verkörpert. Octave durchbricht nicht nur immer wieder die Chronologie seiner Erzählung, sondern gerne auch die Vierte Wand. Dann singt er dem Publikum ein, wie er und seine Werber-Kollegen uns manipulieren. Und wie gerne wir uns das gefallen lassen. Dujardin meint: "Ich hatte das Glück, nicht Kino machen zu dürfen, sondern mein Kino. So konnte ich Figuren nehmen, wie in diesem Fall Octave, von denen man mir sagte: ‚Der ist ein Mistkerl, total versaut, ein willenloser Feigling. Nun ist es an dir, aus ihm einen sympathischen Typ zu machen.‘ Darin besteht für mich die Herausforderung." Das Amüsante sei für Dujardin nun die Progression gewesen: "Wie kann man diese Figur so verbiegen, dass man am Ende des Films sogar Mitgefühl mit ihm empfindet? Außerdem lese ich nicht gerade wenig Drehbücher und wenn dann eines mit dieser Qualität mit dabei ist, dann ist das fantastisch."
Obwohl 39,90 schon 2007 in die Kinos kam und sich die Werbewelt seitdem ein wenig verändert hat, ist er auch heute noch hochaktuell – und höllisch witzig. Auch wenn man danach erst einmal was Ruhigeres braucht …
DK