Im Showdown von George Roy Hills Western-Komödie Zwei Banditen werden die in Bolivien untergetauchten Butch Cassidy und Sundance Kid in einer schier ausweglosen Situation von ihren Verfolgern gestellt. Aber trotz zahlenmäßiger Überlegenheit fordern die Häscher das Militär als Verstärkung an. Um wie viele Männer es sich handele, die sich da verschanzt hätten, will der oberste Soldat beim Eintreffen seiner Hundertschaft von demjenigen wissen, der die Armee benachrichtigt hatte. "Dos hombres" antwortet dieser trocken. "Zwei Männer?" fragt der Soldat verblüfft, bis ihm allmählich ein Licht aufgeht. Man hat es mit den berüchtigten und überall gesuchten Yankees zu tun. Das rechtfertigt natürlich den Aufwand.
Im Finale von Luc Bessons Action-Drama Léon – Der Profi gibt es eine ähnliche Situation. Auch der Hitman Léon und die ihm zugelaufene Zwölfjährige Mathilda stecken in einer Sackgasse. Aber ihr Gegenspieler, der irre DEA-Agent Norman Stansfield, ordnet an, dass alle zur Verfügung stehenden Einheiten anrücken sollen, um die beiden kaltzustellen. Ja, wirklich alle. Nur dass es sich eben nicht um "dos hombres" handelt, die der Exekutive tödliche Schwierigkeiten bereiten. Wenn schon Paul Newman als gerissener Pläneschmied Butch Cassidy und Robert Redford als treffsicherer Revolverheld Sundance Kid 1969 ein ungewöhnliches Paar darstellten, sind Jean Reno als liebenswerter Killer und Natalie Portman als frühreifes Mädchen erst recht eins. Und sie waren zugleich wohl ein sehr zeitgemäßes. Millionen Zuschauer*innen verliebten sich 1994 sofort in sie.
Die Polizei, ihr Freund und…nein, vergessen Sie's…Links: Gary Oldman at his best.
Die Geschichte von Léon – Der Profi entwickelt ihren Reiz teilweise durch die Mischung aus eiskalt inszenierten Ballerszenen und diesen immer intensiver werdenden emotionalen Momenten, die unsere Herzen ebenfalls heftig klopfen lassen. Der Auftragsmörder Léon und die Schulschwänzerin Mathilda sind Nachbarn. Offensichtlich wird das im Treppenhaus rauchende Kind von seinem Vater misshandelt. Ihren brutalen Erzeuger lernen wir schnell kennen. Ein Dealer, der sich dummerweise mit dem Falschen angelegt hat. Man kann sich schwer vorstellen, dass es in ganz New York einen korrupteren Cop als den von Gary Oldman verkörperten Tabletten-Junkie Stansfield gibt. Es kommt schon einer vorläufigen Befreiung Mathildas als Kollateralerrungenschaft gleich, dass seine Unit ihre komplette Familie niedermetzelt. Um Papa, Stiefmama und Halbschwester trauert Mathilda nämlich keine Sekunde lang. Nur ihren vierjährigen Bruder will sie blutig rächen.
Ungwöhnlicher Azubi: Mathilda lernt den Umgang mit der Waffe und will sie auch benutzen
Zwei Tüten Milch retten Mathilda das Leben – und natürlich der ständig Milch trinkende Léon, für den sie eingekauft hatte, weshalb er ihr in höchster Not die Tür öffnet. Nach leichtem Zögern. Spontane Hilfsbereitschaft ist für ihn eben keine Selbstverständlichkeit. Nach und nach stellt sich hier ein Kauz vor, dem feste Abläufe den nötigen Halt in einem wahrlich bescheidenen Leben geben. Seit er nach gewissen Verwicklungen als junger Mann aus Italien nach Amerika gekommen ist, steht er im Dienst der Mafia. Der von Danny Aiello gespielte Kleinpate Tony hat Léon nicht nur aufgenommen, er verschafft ihm auch die Aufträge und verwaltet sein Geld. Wie eine Bank, predigt er, nur besser als eine Bank, weil eine Bank ausgeraubt werden könne. In diesem patriarchalen Abhängigkeitsverhältnis hat Léon sich eingerichtet. Rührend kümmert er sich um seine Topfpflanze, folgt Tony mit Rocky-Balboa-Hundeblick und erledigt zuverlässig seine Jobs. Er feiert nicht mal krank, seine Mütze schützt ihn vor Erkältungen. Irgendwie putzig.
Die forsche Mathilda bringt nun Léons Routine gehörig durcheinander. Zunächst durch ihre bloße Anwesenheit, bald schon mit dem Wunsch, von Léon als Killerin ausgebildet zu werden, falls er die mörderische DEA-Abteilung nicht persönlich zur Rechenschaft zieht. Der Film macht uns zwei unmoralische Angebote: die Ausbildung Mathildas zum Hitgirl und eine angedeutete "Affäre" zwischen dem Erwachsenen und der Wannabe-Lolita. Wollte Regisseur Luc Besson ursprünglich einfach provozieren oder eine ungewöhnliche Story um der ungewöhnlichen Story willen erzählen? Unwahrscheinlich. Schon eher geht es dem Filmemacher einerseits um die Schönheit der Unmöglichkeit dieser Liebe, andererseits um eine prinzipielle Verteidigung der Kindheit.
Es bedeutet viel, dass Mathilda Léon am Anfang fragt, ob das alles immer so schlimm bleibe, oder ob das Leben nur als Kind schlimm sei. An einer anderen Stelle vergleichen sie ihre Reifegrade miteinander: Sie sei schon erwachsen und müsse nur noch groß werden, erklärt Mathilda, woraufhin Léon entgegnet, er sei schon groß, dafür müsse er noch erwachsenen werden. Das hallt länger nach. Wir haben es also mit zwei Kindern in unterschiedlichen Aggregatzuständen zu tun. Mit starken Persönlichkeiten, die allerdings jeweils nach ihrer passenden Rolle im Leben suchen. An keiner Stelle wird das klarer, als wenn sie miteinander spielen.
Wenn die beiden mal wieder umziehen müssen, kommt auch die Topfpflanze mit
Die eine Sequenz aus Léon – Der Profi ist heute legendär, die andere wird eher seltener beachtet. Aber als Léon und Mathilda Fangen und Nassspritzen spielen, begegnen sie sich auf Augenhöhe – das natürliche Lachen Mathildas spricht nicht nur für Spaß während der Dreharbeiten oder ist ein gutes Beispiel für das Talent der jungen Natalie Portman, es hat einen dramaturgischen Sinn –, beim Ratespiel kommt dagegen der fundamentale Unterschied zwischen ihnen ans Licht. Mathilda mimt Madonna, Marilyn Monroe, Charlie Chaplin und Gene Kelly, Léon versucht sich lediglich unbeholfen als John Wayne-Darsteller. Er hat sich längst für eine Rolle entschieden, ausfüllen kann er sie kaum. Mathilda dagegen durchläuft während der rund 127 Minuten der Director's Cut-Version, die nun noch einmal im Kino gezeigt wird, eine ganze Reihe weiterer Verwandlungen. Sie ist das hilflose Mädchen, der zornige Racheengel, der sportliche Tomboy, die kühle Geschäftsfrau, der verführerische Vamp, das maskuline Léon-Double – und so weiter. Schließlich ist sie die moralische Instanz, die ihn als Vaterfigur zivilisiert. Also den Kerl, der wie ein Tier mit einem offenen Auge schläft, um stets gegen Angriffe gewappnet zu sein. Sie bringt ihm sogar Lesen und Schreiben bei. Er schenkt ihr dafür einen Ring und die Freiheit. Ganz schön romantisch.
Das offene Ende stimmt hoffnungsvoll und traurig zugleich. Schließlich wird Mathilda die Wahrheit über sich und ihr Leben noch oft Menschen wie der Schuldirektorin offenbaren müssen, denen das alles als Lüge erscheint, weil Typen wie Léon und Mathilda sowie die Verhältnisse, die sie prägten, in ihrer Vorstellungswelt nicht vorkommen – genau so wenig wie eine Topfpflanze, die im Boden einer Wiese Wurzeln schlägt und dort glücklich wird. Dafür braucht man Phantasie. Empathie. Mit Léon – Der Profi ist es Luc Besson umso eindringlicher gelungen, zwei Freaks, ihre Utopien aber auch ihr Scheitern in dem wohl außergewöhnlichsten Liebesfilm mit dem wohl höchsten Bodycount unsterblich zu machen. Danach braucht man erst mal…ein Glas Milch.
Léon – Der Profi Director's Cut läuft am 5. Juli in unserer "Best of Cinema"-Reihe in über 300 Kinos in Deutschland. Alle Informationen und einen Kino-Finder gibt es hier.
WF