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Regisseur Michel Hazanavicius im Gespräch über Das kostbarste aller Güter

Ab sofort läuft Michel Hazanavicius‘ Animationsfilm Das kostbarste aller Güter in den Kinos. Im Interview erklärt der französische Regisseur und Drehbuchautor, warum er dieses "Märchen über den Holocaust" von Jean-Claude Grumberg verfilmen wollte und warum Zeichnungen und Animationen der richtige Weg dafür waren.

10. März 2025

Monsieur Hazanavicius, Sie haben in ihrer Filmografie schon immer dramatische Stoffe und Komödien gehabt, aber nun folgt Das kostbarste aller Güter auf ihren sehr lustigen, betont trashigen Final Cut Of The Dead. Wie kam es zu diesem seltsamen Spagat?
Die Sachlage ist wie so oft beim Film komplizierter. Die Arbeit an Das kostbarste aller Güter fing schon viel früher an. Die Finanzierung eines solchen Animationsfilm ist ziemlich schwierig und COVID machte die Sache auch nicht leichter. Wir mussten die Produktion deshalb ein paar Monate pausieren, in denen ich dann Final Cut Of The Dead drehen konnte. Eigentlich war das ein Segen für mich, weil es so viel Spaß gemacht hat und ein wenig Leichtigkeit in mein Leben brachte. Ich habe es sehr genossen, wieder mit Schauspieler:innen zu arbeiten und danach umso mehr Freude empfunden, wieder zu Das kostbarste aller Güter zurückzukehren. Es war also sehr gesund für mich, eine Pause von der dramatischen Fiktion zu haben und in etwas viel Leichteres und Lustigeres zu gehen.

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Sie verfilmen das Jugendbuch von Jean-Claude Grumberg, das vom Verlag und vom Autor als "Märchen über den Holocaust" bezeichnet wird. Wie kam das Buch in Ihr Leben und warum wollten Sie es verfilmen?
Es wurde mir vor der Veröffentlichung von meinem Produzenten Patrick Sobelman zugeschickt. Sie müssen wissen, dass ich aus einer osteuropäischen, jüdischen Familie stamme. Der Mord am jüdischen Volk ist also Teil meiner Familiengeschichte. Aber ich wollte nie einen Film darüber machen. Ich dachte lange, dass ich nicht legitimiert sei, das zu tun. Die Shoa war auch nicht wirklich meine persönliche Geschichte. Es war mein Großvater, der davon betroffen war und meine Eltern wurden als Kinder während der deutschen Besatzung in Frankreich versteckt. Aber auch das ist ihre Geschichte und nicht wirklich meine. Ich bin in den 70er-Jahren in Paris aufgewachsen: Flower Power, Frieden in Europa, es war wie im Himmel. Ich kann also nicht behaupten, dass ich durch den Holocaust traumatisiert wurde, und ich muss auch sagen, dass ich mir nicht so viele Filme über den jüdischen Völkermord ansehe. Weil ich genau weiß, was ich bin, wie ich bin. Ich weiß, was ich fühlen soll, was ich denken soll. Es ist, als ob ich den emotionalen Weg schon kenne, bevor er beginnt. Und dann habe ich dieses Buch gelesen, und es war ganz anders als das, was ich zu diesem Thema schon gelesen oder gesehen hatte.

Warum war das so?
Zunächst einmal, weil es ein Märchen ist, das der Geschichte eine universelle Tragweite verleiht. Plötzlich ist es keine Erzählung über Juden, Deutsche oder Polen, sondern eine, die uns die Archetypen des menschlichen Wesens nahebringt. Die Geschichte hat einen dramatischen Aspekt, aber sie ist auch voller Hoffnung und sehr tröstlich, besonders für Kinder. Sie zeigt uns, dass man immer die Wahl hat, eine gute Entscheidung zu treffen und ein anständiger Mensch zu sein. Für mich war das eine ganz neue Art, darüber zu sprechen. Außerdem ist die Geschichte schon sehr filmisch erzählt und die Charaktere sind sehr rührend. Dann kam noch hinzu, dass Jean-Claude einer der besten Freunde meiner Eltern ist. Sie kennen sich, seit sie alle 16 waren. Ich kannte ihn also schon seit meiner Kindheit. Sein Vater wurde nach Auschwitz deportiert und dort getötet, deshalb war mir klar, dass Jean-Claude der richtige ist, wenn es darum geht, so eine Geschichte zu erzählen.

Sehen Sie Ihren Film denn auch als Kinderfilm?
In gewisser Weise schon. Das war vielleicht der stärkste Grund, warum ich ihn machen wollte. Mir fiel auf, dass ich die Geschichte der Shoa und die Auswirkungen auf unsere Familie nie wirklich meinen Kindern vermittelt hatte. Meine Frau sagte irgendwann zu mir: "Sie wissen gar nicht soviel darüber. Und wenn das schon bei Kindern so ist, deren Vorfahren davon betroffen war, was ist dann mit anderen Kindern? Du musst diesen Film machen." Für mich kam abschließend noch hinzu, dass gerade die Ära der Überlebenden und Zeitzeugen zu Ende geht. Die Geschichte geht in die Ära der Fiktion über und deshalb muss man andere, zugängliche Wege finden, um sie zu erzählen und dadurch am Leben zu halten.

Warum haben Sie sich entschlossen, einen Animationsfilm daraus zu machen?
Animation war aus vielen Gründen das richtige Werkzeug für mich. Vor allem, wollte ich nicht an den Realismus gebunden sein. Nehmen Sie zum Beispiel die Sequenz, wo der Vater befreit wird und aus dem Lager geht. Was da passiert, ist überhaupt nicht historisch korrekt. Niemand konnte so hinausspazieren. Das ist nie passiert. Aber ich denke, aus emotionaler Sicht waren diese Menschen, die sich wie Geister fühlten, nicht nur Überlebende. Sie waren im Totenreich gewesen und von dort zurückgekehrt. Sie waren also wirklich Geister. Ich empfand diese Szene so, dass sie zwar historisch nicht korrekt war, aber emotional stimmte sie. Animationen machen so etwas möglich. Sobald man das mit Schauspielern filmt, werden die Leute sagen, dass es nicht realistisch sei. Das ist nur eines von vielen Problemen. Ein weiteres Beispiel, das sehr anschaulich ist, sind die Körper der Überlebenden. Ein Mensch von der Statur des Vaters hätte damals 25 oder 27 Kilo oder so gewogen. Solche Körper kann man nicht finden, und wenn man sie mit CGI oder so macht, wäre das schon fast obszön.

Wie haben Sie dann die passende Ästhetik gefunden und diese teilweise wunderschönen Landschaftshintergründe?
Das war ein langer Prozess. Sie müssen wissen, dass ich selbst zeichne, seitdem ich zehn Jahre alt bin. Aber ich habe immer nur Menschen gezeichnet, niemals Landschaften oder Hintergründe. Als ich das Buch gelesen hatte, kam es mir vor, als sei es schon ein Klassiker. Als hätte die Geschichte schon existiert, bevor der Autor sie geschrieben hat. Ich wollte versuchen, dieses Gefühl auf den Film zu übertragen, als ob wir einen Film exhumiert hätten, der schon immer existiert hat. Wenn man an klassische Animationsfilme denkt, kommen einem schnell die ersten Disney-Filme in den Sinn. Schneewittchen oder Bambi oder so etwas. Das war mir zu allgemein und zu kindlich für diese Geschichte. Also ging ich mit meinem Team weiter zurück. Zu den klassischen französischen Gemälden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zum Beispiel. Es gab auch viele russische Maler, die ins Land geschickt wurden, um ein topografisches Zeugnis der russischen Landschaften zu erstellen. Aber damit kann man nicht animieren. Dann habe ich mir eine Ausstellung des japanischen Malers Hiroshege angesehen. Danach dachte ich, dass es funktionieren könnte, wenn man diese klassischen Gemälde mit diesem Stempel aus einfachen Farben und schwarzen Linien mischt. Das ist genau das, was die Japaner im späten 19. Jahrhundert taten, und vor allem ein Maler und Illustrator namens Henri Rivière in Frankreich. Das brachte uns zu den Holzdrucken und seiner speziellen Illustration für Bücher. Und das war wirklich kohärent mit der Erzählung eines Märchens. So sind wir also mehr oder weniger zu dieser Art von Ästhetik gekommen. Und darauf aufbauend habe ich dann die Figuren entworfen.

Sie haben alle Figuren selbst gezeichnet?
Ja. Alle. Auch die Statisten. Das war eine Menge Arbeit, aber ich zeichne eben gerne. Ich habe allerdings einen sehr klassischen Zeichenstil und arbeite mit Bleistift und Papier und nicht am Rechner auf einem Graphikpad. Ich musste also lange mit meinem Team verhandeln, bis ich den richtigen Stil gefunden hatte, der auch in der Animation funktioniert.

Ihr Film erscheint in einer Zeit, in der in den USA und in vielen Europäischen Ländern Rassismus und Antisemitismus auf dem Vormarsch sind. Wie denken Sie darüber?
Ich habe vor sechs Jahren angefangen, daran zu arbeiten. Damals gab es zwar wie immer etwas Antisemitismus, aber er war nicht so präsent wie jetzt. Ich bin natürlich nicht glücklich über diese Entwicklung und die Tatsache, dass mein Film in diesen Zeiten erscheint. Aber dennoch denke ich, dass er eine gute Möglichkeit ist, über diese Themen zu sprechen, weil es ein sehr friedlicher Film ist. Seine Botschaft ist nicht, dass man den Mördern die Schuld vorhalten muss, sondern es geht darum zu sagen: Selbst, wenn die Welt um dich herum zusammenbricht, hast du immer die Wahl, ein guter Mensch zu sein. Es tut gut, sich das heute noch einmal bewusst zu machen, wo die Leute sehr aggressiv reden und alles sehr negativ gesehen wird. Ich denke, die beste Antwort auf diese Aggression ist nicht weitere Aggression, sondern einen Film wie diesen zu bringen, der im Kern friedlich ist und eine humanistische Botschaft hat. Das kann nicht die einzige Antwort sein und es ist keine Lösung, aber ich fühle mich wohl mit dieser Botschaft – und sie scheint anzukommen.

Ich muss sagen, dass wir in Frankreich, wo der Film schon früher lief, wirklich sehr gute Zahlen hatten. Auch weil viele Lehrer ihre Klassen ins Kino gebracht haben. Das passierte auf sehr spontane Weise. Der Film war nicht in irgendwelchen Sonderprogrammen des Bildungsministeriums oder so, die Lehrer*innen dachten einfach, er sei ein guter Punkt für eine Diskussion über das Thema Holocaust. Ich habe bei diesen Vorführungen viele Q&As gemacht und die waren die besten Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren gemacht haben. Da saßen Kinder im Alter von 12 bis 18 Jahren aus allen sozialen Schichten, aus allen Religionen und aus allen Teilen der Welt, die wirklich tolle Fragen stellten. Ich habe erst letzte Woche eine Vorführung in New York gemacht und da war ein Mann, der zu meinem Produzenten und mir kam und sagte, der Film sei großartig, er habe ihn wirklich geliebt, aber er fühle sich ein bisschen schlecht, weil er mit seiner Tochter da war, die 12 Jahre alt sei. Er befürchte, er habe sie damit traumatisiert. Mein Produzent hat dann das Mädchen direkt gefragt, was sie von dem Film mitgenommen habe. Und sie sagte: "Ich denke, ich weiß jetzt, dass ich meine Eltern mehr lieben sollte." Das war das Schönste, was jemals über einen meiner Filme gesagt wurde.

Daniel Koch

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