Gehört nicht eine Portion Wahnsinn dazu, um den 1. und 2. Band des Kultromans Vernon Subutex zu verfilmen?
Cathy Verney: Dieser Wahnsinn begann vor vier Jahren. Ich hatte den Roman von Virginie Despentes gelesen und war wie viele aufgewühlt, schockiert und gerührt. Wie nur selten hört man hier den Aufschrei einer ganzen Generation. Ich fand für eine Serie eignet sich dieser Erzählprozess in Form einer inneren Reise der Figuren optimal. Es findet ein ständiger Perspektivwechsel vom „sie“ zum „ich“ statt und das aus einer Vielzahl von Sichtweisen heraus. Darin bestand das Fundament. Letztendlich habe ich mich dann für den Standpunkt von Vernon entschieden, auch wenn der Roman vielstimmig ist. Wir sind im Einklang mit seinen Schritten, seinem Weg, seinem Rhythmus, seiner Musik, seinen Emotionen und seinem tiefen Fall. Gerade der letzte Punkt ist wichtig. Wie im Roman erteilen wir Jemandem das Wort, der zu kämpfen hat, der auf der Straße landet. Das wollte ich unbedingt zeigen.
Warum entschieden Sie sich für Romain Duris als Vernon?
C.V. : Da gab es nur einen Namen, um Vernon zu spielen und das ist Romain (lacht). Er verkörpert die Jugend einer Epoche. Seit 25 Jahren schauen wir ihm dabei zu, wie er älter wird. Durch ihn nehmen wir das kollektive Gedächtnis einer verlorenen Jugend wahr. Es war sehr wichtig diese Figur mit diesem „Gepäck“ zu beladen. Aber die Verkörperung beruht nicht nur auf einem Generationenphänomen. Romain ist in der Suche nach Vernon sehr weit gegangen, dieser so ungreifbaren wie berührenden Figur zwischen zwei Leben, die sich nicht kompromittieren will.
Romain, spricht Sie das an, eine ganze Generation zu verkörpern?
Romain Duris : Darauf kann ich mich nicht berufen, denn ich stelle bei jedem neuen Projekt wieder alles in Frage und fange bei null an. Aber ich höre das sehr oft. Die Journalisten reden davon, dass ich eine ganze Epoche verkörpere, dass man anhand meiner Figuren, die Zeitzeugen sind, sieht wie die Zeit vergeht. Was ich da ausstrahle, kontrolliere ich nicht. Aber ich trage wohl ein Gepäck mit mir mit, dass man mit einer gewissen Lebensart verbindet, die ebenso aktuell, modern wie zeitgemäß erscheint.
Seit ihrem Debüt im Fernsehfilm LE PÉRIL JEUNE (deutscher Titel: Abschlussklasse: Wilde Jugend – 1975), haben Sie kein Fernsehen mehr gemacht. Warum wollten Sie Vernon Subutex drehen?
R.D. : Ich fand in den Drehbüchern eine Entschlüsselung der Gesellschaft vor, die dem ähnelt, was ich bei Cédric Klapisch liebe. Und dann ist das eine großartige Figur. Man kann als Schauspieler so viel aus Vernon machen. Selbst in seinem Fall sehe ich, dass er auch etwas erhält: Er gewinnt seine Freiheit zurück. Dieser Mann taucht in eine Realität ein, in der er mit dem Nötigsten klarkommen muss, also eigentlich mit (fast) Nichts. So kehrt er zur Basis zurück, die wir oft vergessen: zur Liebe. Er lädt sich wieder auf. Das wird für ihn zu einer Bereicherung. Er hat als Plattenhändler begonnen, wird aus seiner Wohnung geworfen und findet sich auf der Straße wieder. Das geht schon sehr weit. Darauf hatte ich Lust, weil es mir Angst machte. Und wenn ich Angst habe, ist das ein gutes Zeichen.
Regisseurin Cathy Verney und ihr Team © Studiocanal GmbH
C.V. : Wir haben vorab viel miteinander gesprochen, vor allem über die ersten sechs Folgen, in denen Vernon noch nicht auf der Straße lebt. Da geht es vor allem darum, dass Vernon sich durch seine prekäre Lage gezwungen sieht, nach einer langen Phase der Selbstisolierung seine Wohnung zu verlassen. Er muss zurück ins Leben, trifft alte Freunde wieder, die sich mehr oder weniger in der bürgerlichen Welt eingelebt haben. Nicht für alle ist es leicht, sich dem Freund der Vergangenheit zu stellen. Aber Vernon wertet nicht. Im Gegenteil. Wenn sie auf Vernon treffen, erinnern sich seine Freunde wieder daran, wer sie einst waren. Schon vom ersten Drehtag an, verkörperte Romain Duris seine Figur zu 100 %.
Die Musik spielt eine zweite Hauptrolle. Wie haben Sie diesen Soundtrack ausgewählt mit Künstlern von Poni Hoax, einer Band aus den 2000er Jahren bis hin zu Suicide aus den 1970ern?
C.V. : Für Vernon ist Musik eine Macht. Er redet mit Hilfe der Musik. Daher ist sie für die Erzählung so wesentlich. Als ehemaliger Inhaber eines Plattenladens kann Vernon ebenso Les Thugs oder die Les Dogs hören wie Poni Hoax oder Jesus and Mary Chain. Vernon ist ein Musikliebhaber geblieben. Er hat sich immer über neue Trends informiert. Ich wollte ein musikalisches Gleichgewicht zwischen Titeln, die Teil des kollektiven Gedächtnisses sind und anderen, die man weniger kennt. Ich habe mir die im Buch erwähnten Titel angehört, als ich das Drehbuch schrieb und mit Mathieu Sibony und Jamie Harley zusammengearbeitet, die mir weitere Musik vorgeschlagen haben. Am Set hat Romain viel zu Musik gespielt. So oft, wie es ging. David Chizallet (der Chefkameramann) und ich hörten per Kopfhörer auch immer dasselbe Stück und so bewegten wir uns zu Dritt im Rhythmus der Musik.
R.D. : Persönlich höre ich nicht viel Rock, also musste ich mir eine Art Blase erschaffen. Ich las viele Bücher über die Geschichte der Rockmusik seit Ende der 1960er Jahre, schaute mir Dokumentationen an oder Filme wie LAST DAYS von Gus Van Sant. Vor allem Kurt Cobain interessierte mich sehr und ich habe mir die Ohren mit Musik vollgestopft. Ich wollte mir eine Haltung aneignen, die nicht meine eigene ist, aber mir vorstellen, was es bedeutet, permanent einer Gefahr ausgesetzt zu sein. Vernon ist vielleicht nicht der größte Rocker, wenn es darum geht, wie extrem er ist, aber er hat alles mit angesehen. Er war Zeuge. Ich wollte wie Vernon von Musik und dieser Attitüde beseelt sein. Dabei fragte ich mich immer: "Für was steht Rock noch, wenn dieses Wort in dieser Epoche seine Bedeutung wahrscheinlich längst verloren hat?"
Ist es so schwer heute noch Rock zu sein?
C.V. : Rock steht für mehr als nur die Musik, sondern auch Lebensgefühl, ein Zusammenleben, das glücklich machen konnte, ein Paralleluniversum zum herrschenden System darstellte. Ich hoffe, das existiert immer noch, wenn auch unter einem anderen Namen. Aber "Rock zu sein" ist eine Lebensform, die von der Werbung und der Konsumgesellschaft stark vereinnahmt wurden. Daher setzen wir in der Serie durch Rückblenden immer wieder auf intensivste Momente der Rockbewegung, die an die Vergangenheit erinnern. Es ging uns dabei darum, auch den Schweiß, die Energie von damals wieder einzufangen, dem Phänomen der Rockmusik nahe zu sein. In der Serie geht es um eine idealisierte Wirklichkeit, wie in einem Märchen. Aber wir hatten schon die Absicht, dass man als Zuschauer spürt, dass es diese Zeit wirklich einmal gab.
Merkt man das auch an der Lederjacke, die für Vernon wie eine Rüstung wirkt?
C.V. : Wir stellten uns vor, dass er diese Lederjacke schon seit Jahren trägt. Sie ist ausschlaggebend dafür, wie er läuft, sich in der Stadt fortbewegt. Romain trug die Jacke permanent, auch wenn er durch die Flure der Produktionsfirma lief. So sehr hat er sich in diese Figur eingelebt.
R.D. : Es ist wie eine zweite Haut. Dieses Kleidungsstück besitzt eine Seele.
C.V. : Vernon hat so an Demos, Treffs und Konzerten teilgenommen. Er ist nicht modebewusst.
R.D. : Die Jacke ist ziemlich einmalig und keine Perfecto. Vernon ist keine Comicfigur.
Der junge Vernon im Kreise seiner Freunde © Studiocanal GmbH
Wie wichtig war ihnen eine gewisse Poesie, die sich auch die vielen Spaziergänge von Vernon einstellt?
C.V. : Eine 30-minütige Folge bietet einem viel Freiheit. Man kann ein Gleichgewicht schaffen zwischen Szenen in denen viel passiert, die so die Handlung vorantreiben und eher diffusen Szenen, z.B. wenn man sich nach Jahrzehnten wiedersieht. Dann vergehen viele Minuten damit, Blicke einzufangen und es fällt schwer, überhaupt die richtigen Worte zu finden.
Ich wollte mir Zeit dafür nehmen, wie Vernon in der Stadt driftet, zu welchem Rhythmus er läuft. Und ich wollte, dass man bei ihm ist, wenn er einen ganz spezifischen Musiktitel hört, wie C’était bien mieux avant (Übersetzung: Früher war es besser) von Daniel Darc zu Beginn der 4. Folge. Wir können uns diese Zeit nehmen, weil Vernon ein Ziel hat. Er will sich die Erinnerung an seinen verschwundenen Freund Alex Bleach bewahren. Das bedeutet ihm viel und treibt ihn an.
R.D. : Während des Drehs bekam ich nie genug und wollte immer mehr auf den Straßen herumlaufen. So eine Figur will man nicht loslassen. Vernon hat eine Art mit anderen Menschen umzugehen, die etwas Besonderes ausstrahlt. Wenn er einem traurigen Mädchen an einer Bushaltestelle seine Kopfhörer gibt, damit sie ein Lied hören kann, schenkt er ihr einen Moment der Ruhe. Ihr geht es danach besser und er hat sich eine Packung Zigaretten verdient. Die wichtigste Aufgabe von Vernon besteht darin, etwas mit den Aufnahmen auf den Videokassetten zu machen, die Alex Bleach ihm hinterließ. Und er muss immer wissen, wo er nachts schlafen wird. Aber ich habe es nicht so gespielt, als wäre er dadurch berechnend.
Vernon bereichert seine Umwelt. Wie sehr brauchen wir Menschen wie ihn heute?
R.D : Vor allem in Krisenmomenten halten Menschen neu zusammen und es entsteht Hoffnung. In Frankreich sieht es derzeit eher so aus, als würde jeder versuchen, so gut wie es geht, alleine klarzukommen. Vernon ist jemand mit dieser Grundhaltung: Alles nicht so schlimm. Man nimmt ihm etwas weg? Dann ist es so! Jemand stirbt? Da muss er durch! Trotz aller Momente des Scheiterns und der Trauer verkörpert Vernon eine große Lebenskraft.
C.V. : Es stimmt, dass er das Leben mit einer gewissen Arglosigkeit angeht. Daher ist er auch so anziehend. Vernon kann Menschen zusammenbringen, und zwar nicht mit Hilfe von Nostalgie, sondern weil es ihm gelingt, Menschen mit der Sprache der Musik anzusprechen. Diese Kraft wirkt wie eine kollektive Hoffnung, ohne programmatisch zu werden. Durch diese Attribute ähnelt er einem Propheten. Man weiß nie, ob er unbewusst handelt oder ein Weiser ist.
Der junge Alex Bleach mit seiner Band. © Studiocanal GmbH
Romain, Was glauben Sie ist Vernon lieber? Eine Art Unbewusstheit oder Weisheit?
R.D.:. Vernon braucht seine Weisheit, sie hält ihn am Leben. Nur durch sie kann er es sich leisten, auch unbewusst zu handeln. Am Ende seines Weges ist er nicht unglücklicher als zu Beginn, auch wenn er tief fällt.
Es gibt noch eine Parallelhandlung in Vernon Subutex. Wie wollten Sie die Suche nach den Aufnahmen von Alex Bleach inszenieren?
C.V. : Wir wollten jetzt nicht bis zum Schluss mit den Mitteln des Krimis spielen, aber schon dafür sorgen, dass man sich wünscht, dass Vernon auf Hyène trifft. Sie wird dafür bezahlt, die Kassetten aufzutreiben, aber sie verändert sich dabei. Die Gemeinschaft rund um Vernon, diese Sehnsucht nach einer kollektiven Erfahrung und ihre Liebe zu Anaïs sorgen dafür, dass sie sich nach Erlösung sehnt. Hyène ist die Figur, die sich am meisten entwickelt. Sie ist wie eine Zwillingsschwester von Vernon: Beide durchleben etwas im Zusammenhang mit ihrer eigenen Einsamkeit. Die ganze Serie versucht, eine Hand zur Hoffnung auszustrecken. Es geht darum, dass man vielleicht ein verlorenes Gemeinschaftsgefühl wiederfinden könnte.
Wie haben Sie mit den anderen Schauspieler/Innen zusammengearbeitet?
R.D.: Cathy hat sorgfältig gecastet. Die Rollenwahl sagt bereits viel über die Charaktere aus. Ich musste ihnen nur noch beim Spielen zusehen. Mit Florence Thomassin oder Philippe Rebbot zu spielen, gab mir viel Energie. Man erwartet sie nicht in diesen Rollen. Manchmal ergreift das Leben die Oberhand über die Dreharbeiten.
C.V.: Einige stammen aus dem Kino oder vom Theater, wie Athaya Mokonzi, die zur Theatergruppe "Les Chiens de Navarre" gehört. Andere kommen aus der Musikszene: Flora Fischbach, Calypso Valois. Einige standen das erste Mal vor einer Kamera... Aber alle hatten Lust, sich hinzugeben, gemeinsam zu suchen. So habe ich als Zwanzigjährige im Theater mit Éric Ruf in La compagnie d'Edwin(e) angefangen. Wir machten alles selbst: vom Bühnenbild bis zu den Kostümen, vom Text bis zur Musik. Die Dreharbeiten ermöglichten mir, nach vielen Jahren wieder einmal eine so starke kollektive Erfahrung zu erleben. Wir hatten alle Lust, gemeinsam über uns hinauszuwachsen, um so den Figuren dieser Geschichte gerecht zu werden.
Wir verlosen ein Buch-Package mit allen drei Bänden von „Das Leben des Vernon Subutex“ von Virginie Despentes. Schicken Sie uns einfach eine Mail mit dem Stichwort „Despentes“ und Ihrer Postadresse an arthaus@studiocanal.de. Viel Glück!
Einsendeschluss ist der 20. Juli um 12 Uhr MEZ – die Gewinnerin oder der Gewinner werden im Laufe des Tages ausgelost und persönlich kontaktiert!
Für das Gewinnspiel gelten folgende Teilnahmebedingungen. Mit der Teilnahme am Gewinnspiel akzeptieren Teilnehmer:innen diese Bedingungen.