Kinostart: 30. Mai 2019 im Verleih von Studiocanal
Wenn der Abspann von Roads läuft, werden sich manche Zuschauer*innen sicherlich fragen: "Wie hat der Schipper das schon wieder gemacht?" Während ihnen gleichzeitig ein Gefühl im Bauch sagt, dass sie von der Story, ihren Helden und Kulissen auch am nächsten und übernächsten Tag noch tief berührt sein werden.
Roads-Regisseur Sebastian Schipper ist halt ein Typ für besondere Filme. Als Schauspieler wirkte er unter anderem in sehr unterschiedlichen aber jeweils hoch gelobten Produktionen mit: Der englische Patient, Lola rennt, zuletzt Coconut Hero. Und nach dem Instant-Hype um sein Regie-Debüt Absolute Giganten vor 20 Jahren inszenierte er weder mit Ein Freund von mir noch im Fall von Mitte Ende August eine simple Wiederholung der Erfolgsformel. Victoria setzte seiner Lust an künstlerischen Herausforderungen dann die vorläufige Krone auf: Schipper drehte den 2015 auf der Berlinale gefeierten Love-and-Heist-Movie in einem einzigen Take und entwickelte durch diesen Kniff einen unwiderstehlichen Sog, Das Publikum wurde mit Haut und Haar in die Handlung hineingezogen.
Auf eine intensive Erfahrung folgt die nächste. Vielleicht liegt es ja daran, dass Apocalypse Now sein Lieblingsfilm ist, denn falls es einen inhaltlichen roten Faden in Sebastian Schippers Regie-Arbeiten geben sollte – außer dass der Kerl konsequent Ideen verfolgt, die ihm lange im Kopf herumspuken –, dann wäre diese kontinuierliche Eigenschaft mit "Intensität" gut getroffen. Kalt lassen einen seine Filme nie, egal worum es darin geht.
Schippers erste internationale Produktion Roads macht diesbezüglich keine Ausnahme. Es handelt sich um eine Art Mischung aus Roadmovie, Liebesgeschichte, Coming-Of-Age-Drama und politischem Film. Im Gespräch bestätigt der charismatische Typ diesen Eindruck. Schipper fügt allerdings hinzu, dass Roads gleichzeitig nichts davon je bewusst hatte werden sollen. Einer der vielen Ausgangspunkte sei die Frage gewesen, wie man heute eine Reise durch – oder besser gesagt, eine Begegnung mit der Welt erzählen kann. Und ein bisschen überrascht es ihn wohl selbst, was letztlich dabei herausgekommen ist. Auf die Motivation angesprochen, kramt er auch kurz in der Vergangenheit. Als Kind habe er das Buch "Wo die wilden Kerle wohnen" geliebt. Nachvollziehbar, geht es darin doch ums Unangepasstsein und um phantastische Wesen, die uns das Leben besser verstehen lassen. Wer darauf steht, macht später eben solche Filme, siehe oben.
Unterschätzen Sie nie die Bedeutung der Rebellion und des Zwischenmenschlichen für Schippers Werk: In Roads spielen Begegnungen eine fast ebenso große Rolle wie die beiden Hauptfiguren Gyllan (Fionn Whitehead) und William (Stéphane Bak). Gleich ihr erstes Zusammentreffen könnte in einem Band über die kuriosesten first dates der Filmhistorie stehen:
Sebastian Schipper hat am Set ganz genaue Vorstellungen
Wir sehen zunächst den jungen Engländer Gyllan mit dem Wohnmobil seines Stiefvaters vor der Küste Marokkos. Noch nass von einem Sprung in den Swimming Pool der Urlaubsresidenz, woraufhin er den Camper entwendet hat, um damit seinen richtigen Dad in Frankreich zu besuchen, scheint das Ende des Abenteuers bereits erreicht. Er steckt mit dem geklauten Auto fest. Begossener Pudel sozusagen.
Rettung naht durch William, der ganz andere Sorgen hat. Er stammt aus dem Kongo, hat sich von dort auf den Weg durch die Wüste gemacht und will weiter über die Grenze Richtung Spanien, um nach seinem geflüchteten Bruder zu suchen. Zwar bringt William Gyllans Auto wieder in Schwung, mitfahren möchte er aber nicht. Das ändert sich erst nach dem überraschenden Wiedersehen der beiden. Fortan begeben sie sich gemeinsam auf einen Trip, in dessen Verlauf sie mehr und mehr über den anderen erfahren. Nicht nur das. Allmählich kapieren sie, wie diese Welt namens Europa wirklich tickt. Zum Teil tickt die echt nicht ganz sauber, beispielsweise der von Moritz Bleibtreu gespielte Luttger. Immerhin hinterlässt dieser Hängengebliebene den Jungs etwas, das kurzzeitig ihre Stimmung hebt und eine gewisse Adoleszenz-Transzendenz ermöglicht, Sie verstehen. Späteren Grenzerfahrungen können Gyllan und William leider nichts Positives mehr abgewinnen. Aber sie haben einander – und trotz allem ihre jugendliche Unbekümmertheit. Immerhin.
Sebastian Schipper drückt es so aus: "Es läuft immer wieder darauf hinaus, dass sie gerade mal 18 sind. Gyllans erste Frage an William lautet: ‚Willst auch ein Bier?’ So sehr es um die Welt geht, die hart ist, und in der sichtbar wird, was in Europa gerade stattfindet, geht es auch darum, dass die beiden etwa gerne Fußball gucken. Und wenn sie was zu kiffen finden, probieren sie es eben aus."
Die Begegnung mit seinem biologischen Vater verläuft schließlich sehr unangenehm für Gyllan, selbst William wirkt geschockt. Dem Regisseur war es offensichtlich wichtig, im Verlauf der Handlung die unterschiedlichen Nöte seiner Protagonisten nicht gegeneinander auszuspielen. Auch der privilegierte Nordeuropäer darf leiden und dafür Verständnis erwarten. Und die Reisenden finden umso enger zueinander, je härter die Erfahrungen erscheinen, mit denen die Wirklichkeit sie unterwegs konfrontiert. – und die ihnen unter die Haut gehen. Schipper betont: "Ich wollte keinen Problemfilm machen." Okay. Es ist ein unterhaltsamer Film über wahre Freundschaft geworden. Allerdings in einer Welt voller Probleme.
Die beiden jungen Darsteller entpuppen sich darin als Glücksfall. Zwischen Fionn Whitehead, den man aus Christopher Nolans Dunkirk kennt und dem bislang unbekannten Stéphane Bak stimmt es einfach. Auch andere Details fügen sich perfekt ins Gesamtbild, wie etwa das zu Beginn von Roads sehr präsente Wohnmobil. Sebastian Schipper unterstreicht, dass man als Regisseur manche Dinge nicht planen kann: "Wir wollten ein Auto im Film haben, das zur Geschichte passt. Dieses spezielle Modell kann man allerdings mit einem PKW-Führerschein fahren, und Fionn hatte eine Woche vor Drehbeginn seine Prüfung bestanden. Für eine eher kleine Produktion wie unsere war es nicht unerheblich, dass er den Wagen legal fahren durfte, weil wir in den Szenen ansonsten die Straßen hätten absperren müssen."
Das nennt man wohl tatsächlich Fügung. Und dabei haben wir noch gar nicht über die hervorragenden Filmmusik von The Notwist gesprochen…
Roads – Regie: Sebastian Schipper, Drehbuch Sebastian Schipper und Oliver Ziegenbalg, mit: Fionn Whitehead, Stéphane Bak, Moritz Bleibtreu u.v.a.
WF