Wenn man über den Film The Outrun spricht, sollte man auch über das Buch "The Outrun" sprechen. Und zwar nicht, weil man das Eine ohne das Andere nicht versteht, sondern weil die Leseerfahrung und der Film unabhängig voneinander gleichermaßen intensiv und ergreifend sind.
Amy Liptrot erzählt in "The Outrun", wie sie als junge Studentin und Journalistin in London langsam in den Alkoholismus abdriftet. Aus Verzweiflung und Ratlosigkeit reist sie zurück in ihre Heimat – auf die schottischen Orkney-Inseln. Dort beginnt ein Prozess der Heilung und der Selbstfindung, der wie das Buch alles andere als linear funktioniert.
2016 veröffentlicht, fielen die meisten Kritiken sehr positiv aus, gerade weil Liptrot eine spannende Verbindung aus "Nature Writing" und Selbstfindung eingeht, die bisweilen geradezu schmerzhaft ehrlich ist. Oft wurde ihr Buch in einem Zug mit Helen Macdonalds "H wie Habicht" genannt, das ähnlich gefeiert wurde.
In einem Beitrag für die britische Tageszeitung "Guardian" erzählte Amy Liptrot 2016, wie sie das Buch mit Hilfe ihrer Tagebuch-Notizen formte und wie sie spürte, dass ihr dieser Prozess neue Kraft und neuen Halt gab: "In meinen Tagebüchern aus dieser Zeit tauchen zwei Themen immer wieder auf. Erstens: die Einsamkeit. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Arbeit über mein Privatleben gestellt hatte, und war besorgt, dass ich seltsam geworden war: schweigsam, angespannt und nüchtern. Zweitens: die Sorge, dass ich nicht hart genug arbeite. Dennoch ging es langsam aufwärts. Ich lernte, wie wichtig das Neu-Schreiben war, bei dem ich spüren konnte, wie sich das Buch formte und festigte. Wie beim Bau einer Mauer hatte ich ein ständiges komplexes Puzzle im Kopf, und ich hatte den Luxus, die Zeit zu haben, immer wieder darüber nachzudenken. Manchmal fiel mir dann plötzlich eine Formulierung oder eine Lösung für ein Problem ein, während ich morgens über Klippen und Strände wanderte oder abends duschte."
Dass es nun einen Film namens The Outrun gibt, ist auch und vor allem der Produzentin Sarah Brocklehurst zu verdanken, die Liptrot in einem anderen Artikel liebevoll "my powerhouse producer" nennt. Brocklehurst war es, die Regisseurin Nora Fingscheidt das Buch schickte, als klar war, dass Saoirse Ronan als Hauptdarstellerin dabei war – und als Co-Produzentin mit ihrem Mann Jack Lowden. Fingscheidt erzählte uns, dass sie zuerst gedacht habe: "Nie im Leben ist das verfilmbar!" Dann aber habe sie genau das als Herausforderung gesehen und zuerst allein an einer Umsetzung gearbeitet. Sie ging das Buch noch einmal intensiv durch und markierte Themenbereiche wie Folklore, Audio, Geschichte, Orkney, London, Kindheit oder Teenager-Zeit in verschiedenen Farben. Danach schrieb sie alle ihr wichtig erscheinenden Momente in der jeweiligen Farbe auf Karteikarten und arrangierte diese während eines Schreibstipendiums im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles tagelang auf einem riesigen Tisch. Daraus entstand dann eine erste roughe Version.
Nora Fingscheidt und Amy Litprot teilen sich die Drehbuch-Credits, weil nach diesem ersten Prozess ein reger Austausch zwischen den beiden bestand, der so nah, offen und vor allem zeitintensiv war, dass es Fingscheidt schnell klar war, dass die beiden einen Credit bekommen müssen.
Das Drehbuch dürfte für Filmfans eine spannende Lektüre sein. Vor allem, wenn man weiß, dass es in Liptrots "The Outrun" so gut wie keine ausformulierten Dialoge gibt und man oft auf einer Seite durch verschiedene Orte, Zeitebenen und Gemütszustände driftet. Liptrots ungemein dichte Erzählung ist als Leseerfahrung völlig schlüssig – aber eben tatsächlich nicht 1:1 verfilmbar. Zugleich ist die Hauptfigur im Film The Outrun nicht Amy, wie im Buch, sondern eine Figur namens Rona, die – wie alle drei sagen – Elemente von Amy Litprot, Nora Fingscheidt und Saoirse Ronan verbindet.
Damit das möglich wird, schrieb Fingscheidt die Dialoge im Drehbuch in den meisten Fällen als indirekte Rede auf. In einem Interview mit dem Online-Magazin "Awards Focus" erklärte sie: "Wenn wir wirklich präzise sein mussten, zum Beispiel wenn jemand Dinge sagt wie ‚Ich weiß nicht, ob ich nüchtern glücklich sein kann‘, oder ‚einfach wird es nie, aber weniger schwer‘, dann haben wir die Szene, die Dialoge und die Struktur sehr klar ausformuliert. Aber die Art und Weise, wie die Schauspieler die Sprache verwenden, wollte ich ihnen überlassen, damit sie mehr Tiefe in der Figur finden."
Das ist im Film eindrucksvoll gelungen, aber Saoirse Ronan gab im Gespräch mit uns zu, dass ihr genau das erst gar nicht so leicht fiel: "Ich fand es anfangs sehr tricky. Ich habe Schauspielerei als etwas sehr Klares und Genaues gelernt. Ich liebe Dialoge und ich habe gerne ein bestimmtes Stück Text, das ich lernen muss." Sie sei vorher der Meinung gewesen, dass Improvisationen oft chaotisch und unkonzentriert wirken können und man schnell das Ziel aus den Augen verliere. "Aber wir haben bei den Proben sehr intensiv darüber gesprochen, was wir in einer Szene sagen wollen. Das in Verbindung mit dieser mir neuen Freiheit in meiner Darstellung ergab diese ungefilterte Qualität, die von uns allen ausgeht. Das gelingt einem glaube ich nicht mit einem starren Drehbuch. Am Ende fühlte es sich wie ein Geschenk an, so zu arbeiten."
In einem weiteren Beitrag für den "Guardian" schreibt Amy Liptrot darüber, wie es sich anfühlt, eine schwierige Phase ihres eigenen Lebens nun nicht nur im Buchladen zu finden, sondern auch auf einer großen Leinwand zu sehen. Darin beschreibt sie noch einen anderen Weg, wie aus dem "unverfilmbaren" Buch ein Film wurde und nennt Nora Fingscheidt sehr charmant ihre "supersmarte deutsche Regisseurin". Liptrot erklärt: "Wir haben einige fiktive Momente erfunden, um ein zentrales Problem dieser Adaption zu lösen: Wie macht man sichtbar, was im Buch ein innerer Prozess ist? Wie kann man die heilende Kraft der Natur zeigen? Es gibt einen Moment, in dem Rona ihre Kopfhörer abnimmt und die Geräusche ihrer natürlichen Umgebung auf sich wirken lässt. Es gibt eine Szene, in der sie, von Heißhunger geplagt, von einer Fähre wegläuft, bevor diese abfährt. Keines dieser Ereignisse ist mir wirklich passiert, aber die Gefühle und Entscheidungen, die sie vermitteln, schon. Nora hat es sehr geschickt verstanden, Elemente aus dem Buch und aus unseren Gesprächen aufzunehmen und sie auf neue, kraftvolle Weise zu kombinieren."
Am Ende müssen wir an dieser Stelle aber trotzdem noch einmal betonen: Auch, wenn wir die Website sind, die naturgemäß dafür werben solle, dass man unbedingt diesen Film sehen sollte, muss das Buch "The Outrun" hier ebenso deutlich empfohlen werden – wobei an dieser Stelle gesagt sei, dass es im Deutschen "Nachtlichter" heißt.
DK