Tätigkeitsfeld Restorative Justice – das klingt ungewöhnlich. Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Ich bin Leiter des Servicebüros für Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung. Wir sind Teil des DBH – Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik e. V. und werden aus Mitteln des Bundesministeriums der Justiz gefördert. Unser Ziel ist die weitere Etablierung von Konfliktvermittlung in Strafsachen im Sinne einer Restorative Justice. Bei Restorative Justice geht es um die allparteiliche Moderation des Dialogs zwischen Betroffenen und Verantwortlichen von Straftaten. Wir bilden Menschen aus, die zwischen den Beteiligten fachgerecht vermitteln, und veranstalten Schulungen für sämtliche Berufsgruppen, für die eine Auseinandersetzung mit dem Thema relevant ist – von Polizei und Staatsanwaltschaft bis zu Richter*innen. Außerdem unterstützen wir die Qualitätssicherung in der Praxis, bringen Publikationen heraus, veranstalten Tagungen und fördern die bundesweite TOA-Statistik. Generell ist uns wichtig, dass Alternativen zur Strafe gelebt werden.
Würdest du in einer Schulung All eure Gesichter zeigen?
Auf jeden Fall würde ich All eure Gesichter in Schulungen zeigen! Und ich würde ihn insbesondere auch den Leuten ans Herz legen, die mit dem Thema noch gar nicht in Berührung gekommen sind. Wenn ich anderen erzähle, was ich beruflich mache, sind die meisten nämlich total überrascht, dass es so etwas wie Restorative Justice gibt. Sie sind irritiert, dass es einen Weg gibt, in dem es nicht um Schuld und Strafe, sondern um Dialog und Wiedergutmachung geht. Sobald sie aber ein wenig mehr darüber erfahren, sind sie davon recht angetan und wollen mehr darüber wissen. Der Film zeigt auf verschiedenen Ebenen, warum Restorative Justice wichtig sein kann. »All Eure Gesichter« bringt die Idee dahinter, die Haltung der Vermittler:innen und ihren Impact einfach sehr gut und dabei unterhaltsam und spannend auf den Punkt.
Wie lange ist Restorative Justice schon ein fester Begriff?
In Deutschland beschäftigt man sich seit den 1980ern damit, praktisch und wissenschaftlich. Es wird hier meist von Täter-Opfer-Ausgleich gesprochen, wobei die englische Bezeichnung das Prinzip besser erfasst. Der Begriff kommt ohne negative, die Vielseitigkeit des Menschen reduzierende Zuschreibungen aus. Wem wird eine Reduktion auf eine solche Rolle schon gerecht? Manche »Opfer« betrachten diese Zuschreibung dazu als Herabwürdigung, sehen sich nicht in der Rolle der Schwachen, wie man sie gemeinhin mit Opfern assoziiert. Einige »Täter« haben selbst viel Leid erfahren und ihnen ist es wichtig, dass sie auch mit ihrer Geschichte gesehen und nicht auf ihre Tat reduziert werden. Auch der Begriff des Ausgleichs hat seine Grenzen. Und das umso mehr bei schweren Verletzungen, bei denen vielleicht nichts mehr ausgeglichen werden kann. Das, was geschehen ist, lässt sich nicht ungeschehen machen. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – kann es wichtig sein, sich zu treffen. Und trotzdem kann vielleicht »Gerechtigkeit« (wieder-)hergestellt werden, worauf der englischsprachige Begriff abzielt.
Zuhören will gelernt sein © Studiocanal
Der Film beginnt mit einem Rollenspiel während einer Schulung. Ist das eine passende Darstellung?
Die echte Ausbildung lebt tatsächlich von Rollenspielen. Das Wichtigste, was man dabei lernt, ist die Haltung. Methodenlernen ist eine Sache, aber die Haltung, die braucht Zeit, Übung und fortwährende Reflexion, um sich zu entwickeln und zu festigen. Die Haltung ist etwas, was man nicht nur verstehen muss, sondern man muss es fühlen. Das geht nur über das Erleben in Rollenspielen und in der Vermittlungspraxis. Zum Beispiel: über aktives Zuhören zu sprechen ist leicht, aber bereits jemandem bedingungslos zuzuhören, sich komplett rauszunehmen und einfach empathisch zu sein ist unglaublich schwer, braucht viel Übung und persönliche Erkenntnis. Selbst einige lange in der Praxis arbeitenden Sozialarbeiter:innen, die im Studium mehrfach damit in Berührung gekommen sind, fällt dies in unserer Ausbildung mitunter anfangs ziemlich schwer. Im Film wird deutlich, was ich meine. Ganz empathisch zu sein, ist superschwierig. Das muss man trainieren. Also ja, die Anfangssequenz des Films trifft es schon gut.
Du hast Sozialarbeit und Kriminologie studiert. Woher kommen die Leute, die bei euch in den Schulungen sind und wie läuft ihre Ausbildung ab?
Oftmals kommen sie aus der Sozialen Arbeit, teilweise aus der Mediation ohne strafrechtliche Relevanz. Vereinzelt sind Psycholog*innen darunter, vereinzelt Jurist*innen. Zuletzt hatten wir zwei Richterinnen in der Ausbildung. Aber das sind schon eher die Kolibris unter den Teilnehmenden. Die Ausbildung ist berufsbegleitend und geht über ein Jahr. Sie besteht aus fünf Modulen, insgesamt 120 Unterrichtsstunden. Unverzichtbar ist, dass die Auszubildenden sich parallel in TOA-Fachstellen unter dortiger Anleitung erproben. Dass sie Vorgespräche mit den Beteiligten führen und bei Interesse der Beteiligten das direkte Vermittlungsgespräch moderieren. Zwei Fälle aus dieser Lehrzeit werden am Ende in einer Abschlussarbeit zunächst schriftlich und mit den Trainer:innen im Kolloquiumsgespräch reflektiert. Mein früherer Chef hat mal gesagt, so richtig verstanden habe er es erst, nachdem er über 300 Fälle begleitet hat…
Was ist die Motivation der Opfer eines Verbrechens, das Restorative Justice-Angebot wahrzunehmen?
Ganz unabhängig von der Art der Straftaten, können die Bedürfnisse und die hiermit zusammenhängende Motivation der Betroffenen sehr unterschiedlich sein. Aber zum Beispiel bei schwereren Verletzungen, wo jemand unvermittelt durch die Einwirkung eines Unbekannten zu Schaden gekommen ist, geht es einigen darum, Antworten auf ihre Frage zu bekommen: »Warum ist mir das passiert? Passiert mir das noch mal? Was tut dieser Mensch, der mir das angetan hat, damit es nicht noch mal vorkommt?« Manche wollen den Tatverantwortlichen mitteilen, wie schlecht es ihnen seit der Tat geht. Welche negativen Konsequenzen sie für ihr Leben gehabt hat, für das ihrer Angehörigen. Andere möchten die Tatverantwortlichen vielleicht nur treffen, um zu sehen, was sie seitdem aus ihrem Leben gemacht haben. Manche wollen, dass die Tatverantwortlichen zu dem stehen was sie getan haben und im wahrsten Sinne des Wortes aktiv Verantwortung dafür übernehmen. Oft kommen mehrere Aspekte zusammen.
In All eure Gesichter werden zwei Szenarios durchgespielt. Im Fall von Chloë ist es die direkte Konfrontation mit dem Täter. Wie ist das übliche Vorgehen?
In Deutschland ist das eher die direkte Mediation, also die moderierte Begegnung zwischen direkt Beteiligten, meist im Ermittlungsverfahren. Schätzungsweise sind das insgesamt ca. 20.000 bis 25.000 Fälle im Jahr. Hinsichtlich der Delikte gibt es grundsätzlich zwar keine Einschränkungen, aber der Großteil der Vermittlungen in der Praxis bewegt sich im Rahmen von – juristisch betrachtet – eher leichten bis mittelschweren strafrechtlich relevanten Verletzungen, häufiger sind es Körperverletzungsdelikte. Nur zu Info: Prinzipiell ist Restorative Justice auch mit Angehörigen in einem Mordfall denkbar. Und gerade bei schweren Delikten kann das – so viel ist wissenschaftlich schon erwiesen – für die Betroffenen am meisten Empowerment bedeuten. Die im Film gezeigten Opfer-Täter-Dialoge in Haft sind in Deutschland vergleichsweise jung und werden bisher nur in einzelnen Gefängnissen in Deutschlands angeboten. Mein Eindruck ist, dass das strafjustizielle Bewusstsein für den Nutzen solcher Angebote zunimmt.
Auf jeden Fall würde ich All eure Gesichter in Schulungen zeigen!
In All eure Gesichter sagt die Betroffene Nawelle zum Täter Nassim, sie sie habe drei Jahre Therapie hinter sich. Aber er habe mit seinen Worten in drei Minuten ihre Blockade gelöst. Ein realistisches Szenario?
Es gibt natürlich keine Garantie dafür und eine Konfliktvermittlung ist kein Ersatz für eine Therapie, aber durchaus kann so etwas Entscheidendes passieren. Es gibt ein Zitat, das ich von dem Opferanwalt Dr. Schädler kenne, das hier sehr gut passt: "Alles ist besser als die Phantasie". Im Film nimmt Nassim Nawelle die Angst. Ihre Sorge war, noch einmal von derselben Person angegriffen zu werden. Und Chloë, die von ihrem Bruder missbraucht wurde, geht es nicht darum, mit ihm weiter zusammenzuleben. Aber durch die Mediation findet sie einen Weg, um mit dem Geschehen abzuschließen. Ein Beispiel aus dem wahren Leben, über das häufiger in der deutschen Medienlandschaft berichtet wurde: 2015 wurde eine Frau vor eine Bahn geschubst. Sie hat sich am Täter festgehalten, beide sind auf die Gleise gefallen, die Bahn hat gebremst und sie haben überlebt. Er wurde festgenommen. Noch vor dem ersten Verhandlungstag bei Gericht hat sie ihn in der Mediation getroffen und bekam Antworten auf ihre Fragen. In einem späteren Fernsehinterview wurde sie gefragt, ob sie ihm vergeben hätte. Und antwortete sinngemäß: "So würde ich das nicht nennen. Aber ich habe meinen Frieden mit ihm gefunden." Das Urteil im Prozess war ihr danach egal.
Und wie bekommt man die Täter dazu, sich so einer Auseinandersetzung zu stellen?
Manchen tut es leid, sie möchten es aktiv wiedergutmachen und sich entschuldigen. Andere möchten den Konflikt klären oder sich von einer anderen Seite zeigen, verstehen, was für Folgen ihre Tat für die andere Person hatte und wie es ihr jetzt geht. Natürlich haben auch manche die Hoffnung, dass ihre Strafe dadurch geringer ausfallen könnte. Es gibt ja zum Beispiel auch die §§, 46, 46a Strafgesetzbuch. In den Gesetzen geht es um den Einfluss des Nachtatverhaltens auf das Strafmaß. Das Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen und einen Ausgleich zu erreichen, kann positiv ins Gewicht fallen. Und zu diesem Bemühen kann der wiedergutmachungsorientierte Dialog mit dem Opfer zählen. Ob das Gericht die Bemühungen am Ende tatsächlich anerkennt, steht auf einem anderen Blatt und ist natürlich nicht Sache der Vermittler:innen.
Hier wird Tacheles geredet © Studiocanal
In All eure Gesichter erklärt der Ausbilder, Restorative Justic sei Kampfsport. Hat er recht?
Es ist anstrengend, denn man muss wie schon erwähnt viel üben, dazu braucht man Ausdauer und Leidenschaft. Aber beim Kampfsport geht es ums Gewinnen und Verlieren, und das Ziel von Restorative Justice ist es, möglichst eine Win-win-Situation zu schaffen, der beide Seiten etwas abgewinnen können. Was sie letztendlich aus den Gesprächen mitnehmen oder hier klären wollen, bleibt ihnen überlassen. Und denke ich an die Justiz: Natürlich ist es schwer, Staatsanwält*innen für Restorative Justice nachhaltig zu sensibiliseren. Man muss ständig Klinken putzen, um deutlich zu machen, wie wichtig und sinnvoll so ein Prozess ist. Aber, nein, von Kampfsport würde ich nicht sprechen. Es ist zwar sportlich, aber wir versuchen ja, die Zweifler*innen zu uns ins Boot zu holen.
In der Gesprächsrunde aus All eure Gesichter herrscht irgendwann eine recht gelöste Stimmung. Lässt sich das mit wahren Begebenheiten vergleichen?
Ja, es gibt Mediationen, wo die Stimmung am Ende sehr viel Leichtigkeit hat, selbst wenn die Fronten vorher total verhärtet waren. Dann hat es geklappt, dass zwischen ihnen Verbindungen (wieder-)hergestellt wurden, das erfolgreich Brücken gebaut und gegenseitiges Verständnis ermöglicht werden konnten. Im Lauf des Gesprächs haben beide Parteien gespürt, dass sie verstanden wurden. Und vielleicht haben sie auch festgestellt, dass sie mehr miteinander gemeinsam haben als sie dachten. Ich erinnere mich an den Fall eines Taxifahrers, der eine junge Frau im Auto am Arm festhielt, weil sie die Zeche prellen wollte. Sie kam von einer Weihnachtsfeier und war betrunken. Sie hat ihm dann so fest in den Arm gebissen, dass er eine tiefe Wunde hatte. Es stellte sich heraus, dass sie Krankenpflegerin war und sich sehr für ihr Verhalten schämte. Normalerweise half sie Menschen statt sie zu verletzen. Der Taxifahrer hatte da etwas in ihr getriggert. Sie war einige Zeit vorher selbst Opfer eines wenn auch sexualisierten Übergriffs gewesen, wo sie in einem Auto festgehalten wurde. Der Taxifahrer wiederum stellte fest, dass die Frau ungefähr so alt war wie seine Tochter. Es gab plötzlich eine Verbindung, die gegenseitiges Verstehen und schließlich auch Wiedergutmachung ermöglicht hat und sich die Situation auflockerte – ja, und auch wenn die beiden sich nicht in den Armen lagen, sie sind gut gelaunt nach Hause gegangen.
Christoph Willms
Du stehst nach speziellen Vorführungen von All eure Gesichter für Q&As zur Verfügung. Welche Hoffnungen verknüpfst du mit dem Film, der in Frankreich ein Überraschungserfolg wurde. Kino-Dates mit Richter*innen und Staatsanwält*innen, um sie von Restorative Justice zu überzeugen?
Mein Ziel ist es, dass möglichst viele Menschen wissen, dass es auch bei Straftaten die Möglichkeit der Konfliktvermittlung durch allparteiliche Dritte gibt. Dass sie wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie mehr darüber wissen oder das Angebot annehmen wollen. Vielleicht regt der Film auch einige dazu an, kritisch über unseren gesellschaftlichen Umgang mit Straftaten nachzudenken… Ich freue mich also über alle, die nach der Filmvorführung nicht nur sagen: "Der Film war super!", sondern auch denken: "Ich will mehr über Restorative Justice wissen." Egal, aus welchen Beweggründen. Und alle anderen haben zumindest eine gute Zeit im Kino gehabt.
WF