Der Filmemacher Bertrand Tavernier ist im März dieses Jahres kurz vor seinem 80. Geburtstag verstorben, den besonderen Charakter seines Schaffens haben wir in einem Nachruf gewürdigt. Mit ihm ist einer der ganz Großen der französischen Kinofilm-Geschichte aus dem Leben geschieden. Sein Werk jedoch, das zwischen den Polen des Kunst- und Unterhaltungskinos elegant auf schmalen Graten diverser Genres balanciert und das Publikum dabei stets in den Bann zu ziehen vermag, dürfte so schnell nicht in Vergessenheit geraten. Dazu trägt nun auch die umfangreiche Retrospektive der elf Blu-rays umfassenden Bertrand Tavernier Edition von ARTHAUS bei.
Der Uhrmacher von St. Paul © Studiocanal
Tavernier hatte längst ins Filmgeschäft reingeschnuppert, unter anderem war er an Produktionen von Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Melville beteiligt, als er 1974 mit seinem Regie-Debüt Der Uhrmacher von St. Paul Aufmerksamkeit erlangte. Typisch für Taverniers Herangehensweise, die ihn in der Folge zu einem der bedeutendsten europäischen Filmemacher aufsteigen ließ, sind die Veränderungen verglichen mit der Romanvorlage des berühmten Kriminalschriftstellers Georges Simenon. Zum einen der persönliche Bezug – Tavernier verlegte die Handlung in seine Geburtsstadt Lyon –, zum anderen der soziale Aspekt – mit Hilfe erfahrener Drehbuchautoren erweiterte der den Plot um eine aktuelle politische Note. So wird aus einem psychologischen Krimi-Setting, in dem die Geschichte eines Mordes aus der Perspektive des Vaters des Schuldigen erzählt wird und in der dieser das Verhältnis zum Sohn und zu sich selbst aufarbeitet auch zum Kommentar auf militanten Widerstand, solidarisches Verhalten, gesellschaftliche Rollen und die Klassenfrage.
Ein Sonntag auf dem Lande © Studiocanal
Geradezu betörend gerät all dies, wenn man auf die Details achtet und sich davon berühren lässt. So erzählt der um eine Haltung zum Fall und zur Tat des Sohnes ringende Vater dem ermittelnden Kommissar, dass ihn einmal ein Kind auf der Straße angesprochen habe, um ihm frei heraus ins Gesicht zu sagen, dass er sich verändert habe, was ihn zutiefst beeindruckte – also in Sachen Offenheit und Dringlichkeit. Und ist es am Schluss des Films nicht so, dass uns Tavernier diesem Mann mit den Augen eines Kindes ins Gesicht blicken lässt? In seine gute Miene zum bösen Spiel, die eine Ahnung davon vermittelt, er könne sich (noch mal) verändert haben – und zwar durch den Gang der Filmgeschichte, die uns auch gerade durchgeschüttelt hat? Macht uns das sprachlos oder lässt es uns im entscheidenden Moment den Mund aufmachen?
Der Film steht nicht nur in seiner Geschichte, sondern auch formal in der Tradition von Jean Renoir
In kaum einem anderen Film verknüpfte Tavernier seine komplexen Interessen und vielleicht auch Absichten so virtuos und dennoch fast schon beiläufig (sprich: unaufdringlich) wie in Ein Sonntag auf dem Lande von 1984. Die Geschichte spielt im Jahr 1912, der Maler Ladmiral begrüßt seinen Sohn und dessen Ehefrau mitsamt ihren drei Kindern sowie später auch seine Tochter und deren Pudel bei sich im Haus. Wochenend-Besuch. Von Beginn an stellt Tavernier den alten Maler zwar in den Mittelpunkt, behandelt ihn aber gleichzeitig wie eine Nebenfigur. So ergibt sich eine ungewöhnliche Erzählung, in der es letztlich auch darum geht, was man in einem Bild zu sehen vermag, während man es vor dem inneren Auge entwirft, bevor man es als Künstler*in Wirklichkeit werden lässt. Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft – alles zugleich oder vielleicht auch einfach nur eine leere Stelle? Ein Film, der seine Figuren umschleicht, um ihnen näher zu kommen. Wobei schwer zu sagen ist, ob er die Verhältnisse dabei entwirrt oder doch eher in der Art verknotet, dass er das Publikum miteinbezieht. Die Kritik schrieb einst: "Der Film steht nicht nur in seiner Geschichte, sondern auch formal in der Tradition von Jean Renoir: Er verbreitet seine Wahrheit ohne Pathos, subversiv."
Der Richter und der Mörder © Studiocanal
Die Spuren des roten Fadens markieren dabei am ehesten die erzählerische Haltung, beziehungsweise entpuppt sich diese letztlich als jener rote Faden, der die äußerst unterschiedlichen und gleichsam stets wundervollen Filme des Bertrand Tavernier wie Wenn das Fest beginnt, Es beginnt heute, Der Richter und der Mörder oder Die Prinzessin von Montpensier miteinander verbindet. Lassen Sie sich getrost darin verwickeln.
WF