Carlito’s Way handelt von einem Kriminellen, der seinem Schicksal entkommen möchte. Auch Brian De Palma hat den ihm vorgezeichneten Pfad verlassen müssen, um Filmregisseur zu werden. Eigentlich war er in den 1960er Jahre an der Columbia University von New York eingeschrieben, um Physik zu studieren und einem seiner älteren Brüder ans MIT (Massachusetts Institute of Technology) zu folgen. Tatsächlich war der Teenager Brian eher an technischen Frickeleien als an Gemälden, Skulpturen, Filmen oder Literatur interessiert. Ähnlich wie er später in seinen Spielfilmen mit den Werkzeugen der Psychoanalyse und den Mitteln der Regie das Innere seiner Figuren nach außen stülpen würde, so zerlegte er als Jugendlicher Apparaturen, um ihre Funktionen zu ergründen. Was ihn weiterhin dazu brachte, dass er immer wieder das Filmemachen an und für sich thematisierte, als er sich bereits auf der schiefen Bahn befand, die ihn vom designierten Berufsziel Ingenieur ablenkte). Die Uni in New York war stark humanistisch geprägt, und der Student De Palma entdeckte allmählich die darstellenden Künste für sich. An der Columbia kulminierte zudem der damalige Mix aus einer aufgeladenen politischen Atmosphäre des gesellschaftlichen Wandels und der revolutionären Entwicklungen im Kino der französischen Nouvelle Vague, der sich abzeichnenden Veränderungen im System Hollywoods oder im Bereich der bildenden Kunst, in der die radikalen abstrakten Expressionisten bald der Pop-Art Platz machten, sowie in den experimentellen Formen des Theaters. Die Bildungsstätte wurde zu einem kreativen Pulverfass. Die jungen Rebell*innen kanalisierten die Unzufriedenheit mit der Welt demonstrativ in Aktionen wie Polit-Demonstrationen oder Happenings. Wodurch sie auch das konservative Bürgertum von der Couch trieben.
Der lange Schatten des Vaters
Der Vater von Brian De Palma war so aufgebracht von den zeitgemäßen Ausschweifungen des Sohnes, dass er diesem die finanzielle Unterstützung strich. Brian De Palma würde später im Zuge seiner teilweise mega-erfolgreichen Regie-Karriere mit Blockbustern wie Mission: Impossible (1996) noch permanent auf der Suche sein – nach der Balance zwischen kommerziellen Zugeständnissen und künstlerischen Ambitionen. Von der väterlichen Sanktion hat er sich jedenfalls nicht beeindrucken lassen, wenn er sie auch nie vergessen haben mag. Die aufkommende Performance-Kunst und die neuartige Verbindung von Leben und Bühne gaben De Palma allerdings schon früh auch den entscheidenden Hinweis auf seine künstlerische Zukunft. Nach ersten Gehversuchen als Theater-Schauspieler wechselte er doch lieber zum Film. Erstens reizten ihn die technischen Vorgänge, zweitens konnte er in seiner Rolle als Regisseur die Dinge besser kontrollieren. Diese beiden Aspekte unterstreichen den Bezug zur Wissenschaft, den De Palma als Filmemacher nie verlor. Zugleich begann er in den 1960er Jahren, das Kino als Zuschauer zu erkunden. Bis dahin hatte er mit den Werken anderer Regisseur*innen kaum Erfahrung gemacht. Seinen Helden Carlito Brigante lässt er dreißig Jahre nach dem eigenen Debüt The Wedding Party (1963) noch im Sterben die typischen Szenen aus Gangster-Filmen erinnern. Wie Gangster stets in die Notaufnahme kommen, um dort gemeuchelt zu werden. "Bringt mich nicht in die Notaufnahme", denkt Carlito, so wie De Palma sowohl an Genre-Fans als auch eklektische Cineasten denken würde, wären ihm die Neigungen des Publikums oder die Wünsche der Studiobosse je wichtiger als die eigenen Obsessionen gewesen. Fest steht jedoch, dass er ihre Geschmäcker zuweilen mit derselben Wucht traf wie Carlitos Killer sein Opfer.
Sean Penn als gewiefter Anwalt im Gespräch mit Carlito © Studiocanal
Das Pop-Phänomen Brian De Palma
Bemerkenswert auch, dass er bei aller Konsequenz in der Entwicklung einer unverwechselbaren Handschrift solche Breitenwirksamkeit erzielen konnte. Beispiel seines gewachsenen Ruhms ist der Move der Kölner Band Whirlpool Productions, die ihr 1997er Hit-Album mit der Top-Single "From Disco To Disco" schlicht "Brian De Palma" taufte. Frühe Erklärungsversuche der Pop-Kritik zogen Parallelen zwischen der langsam sich aufbauenden und dann in einem entfesselten Finale mündenden Struktur der Whirlpool-Tracks und den Mustern der Filme des Meisters des düsteren Thrillers und der Suspense – ausgangs der 1990er hatte De Palma sich ja längst zum berühmtesten Schüler Alfred Hitchcocks gemausert. Dagegen spricht zwar der eher lapidare Kommentar eines der Bandmitglieder, man habe, so Justus Köhncke, die LP bloß in Anlehnung an das Prefab Sprout-Album aus den 1980er Jahren namens "Steve McQueen" nach Brian De Palma benannt. Aber das wiederum spricht Bände über den Pop-Appeal de Palmas. Dessen formale Attitüde, die sich in diversen als Meilensteine der Filmhistorie bezeichneten, glamourösen Filmsequenzen manifestiert, wird die schnöden Inhalte seiner Werke vermutlich für alle Zeiten überlagern. Nach recht holprigen Lehrjahren vervollkommnete De Palma den eigenen Stil, der ihm niemals zur Masche geriet, in den 1970ern. Auf Noir-Frühwerke, Die Schwestern des Bösen und Schwarzer Engel, folgte die inzwischen zum modernen Horror-Klassiker avancierte Stephen King-Adaption Carrie. 1976 starrte ein fasziniertes Publikum gebannt auf den Eimer mit Schweineblut, der als Damoklesschwert über der an der Nase herumgeführten High-School-Schülerin Carrie hing, die von Sissy Spacek gespielt wurde, und deren Zorn biblische Ausmaße annimmt. Den Eimer, das Blut und die Folgen würde man nie mehr vergessen. Auf diesem Abschlussball hat De Palma seinen Weg gefunden. Das Kippen des Eimers wird zum ästhetischen Kippmoment, auch wenn der Film an der Kasse weniger einspielt als erhofft. Friedkins Der Exorzist hatte die Latte vielleicht etwas zu hoch gehängt, was Schocker über dämonische Besessenheit angeht.
Penelope Ann Miller als Carlitos große Liebe © Studiocanal
Dramatische Momente in Zeitlupe
Der Gebrauch von dramaturgischen Effekten wie Split Screen und Zeitlupe gilt mittlerweile als typisch für Brian De Palma. Doch es lohnt sich ein Blick auf die Feinheiten. In Carrie setzte er die Zeitlupe ein, bevor es zur Katastrophe kommt. Eine halbe Ewigkeit scheint zu vergehen, bis das Schweineblut und damit der Spott über der armen Carrie vergossen wird. Die Slowmotion erzeugt Spannung im Sinne von Hitchcocks Suspense-Idee, bei der das Publikum weiß, was passieren wird, ohne dass die Filmfiguren schon im Bilde sind. Für seine wahrscheinlich legendärste Szene wählte er diese Technik dann, um die Nerven der Zuschauer nicht vor, sondern während der Action zu kitzeln. Die Bahnhofssequenz von The Untouchables (1987): Ein Kinderwagen rollt inmitten eines Shootouts zahlreiche Treppenstufen quälend langsam hinunter. Einerseits ist dies der Höhepunkt des Thrillers, der zur Zeit der Prohibition in Chicago spielt und mit Kevin Costner, Sean Connery und Andy Garcia besetzt ist, für den Ennio Morricone die Musik schrieb und Armani die Kostüme bereitstellte. Andererseits gilt die Szene als Referenz auf die auf der Treppe von Odessa in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin. The Untouchables ist auch Indiz dafür, dass sich die Virtuosität von De Palmas Regie und die Seele seiner Kunst dann am besten entfaltet, wenn er sich bei der Arbeit auf ein starkes Drehbuch stützen kann. Das Skript zu Carlito’s Way stammte wieder aus der Feder von David Koepp, der bei Mission Impossible die Finger mit im Spiel hatte. De Palmas größter Erfolg nach Carrie und vor The Untouchables (nach einem Drehbuch des gefeierten Theater-Autors David Mamet) basierte auf einem Drehbuch von Oliver Stone. Das Gangster-Epos Scarface von 1983, ein Remake von Howard Hawks‘ Film von 1932, ist ebenfalls ein Schlüsselwerk De Palmas. Aber wohl noch wegweisender ist es für seinen Star Al Pacino. Mit Carlito‘ Way bekam er die Chance, die Figur des Tony Montana aus Scarface nicht bloß wiederaufleben zu lassen. Nein, er durfte sie auch zu Grabe tragen.
WF