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Bild zu Lou Reeds Berlin – als Konzertfilm und Album

Lou Reed's Berlin – als Konzertfilm und Album

An sechs Tagen im Jahr 2006 führte Lou Reed mit großem Besteck im Warehouse Theatre in Brooklyn sein düsteres Album "Berlin" aus dem Jahr 1973 auf. Der Regisseur und Künstler Julian Schnabel filmte diese Performance, die Lou Reed mit einer Platte versöhnte, die bei Erscheinen für einen Flop gehalten wurde.

24. Oktober 2023

Es gibt viele Momente auf Lou Reeds "Berlin", in denen man am liebsten kurz abschalten will. Zum Beispiel im letzten Drittel des zehnten Songs "The Kids", wo der Protagonistin Caroline die Kinder weggenommen werden, weil sie und ihr Partner Jim zwischen all den Drogenabstürzen ihre Elternpflichten vernachlässigen. Vorsichtig formuliert. Reed singt darin: "They're taking her children away / Because they said she was not a good mother / They're taking her children away / Because she was making it with sisters and brothers / And everyone else, all of the others / Like cheap officers who would stand there and flirt in front of me."

Das zehn Songs umfassende Konzeptalbum "Berlin" erschien im Jahr 1973 und war Reeds drittes Studioalbum. Als Nachfolger seines kommerziellen und künstlerischen Erfolgs "Transformer" mit den Hits "Perfect Day" und "Walk On The Wild Side" hatte "Berlin" eh schon einen schweren Stand. Dass Reed darauf eine grimmige Ballade im dekadenten, düsteren Berlin erzählt – voller Gewalt, Suizid und Drogenexzessen – half nur bedingt. Wobei es Reed vermutlich genau darauf ankam. Der ehemalige Frontmann von The Velvet Underground stieß Fans und Kritiker:innen gerne vor den Kopf, was er zwei Jahre später mit dem radikalen "Metal Machine Music" noch eindrucksvoller bewies. Trotzdem trafen ihn die harte Kritik und die mauen Verkaufszahlen. Der amerikanische Rolling Stone schrieb 1973, das Album sei "ein Desaster", Reed singe nicht, er spreche und brülle bloß. In der anderen Instanz des Rockjournalismus, dem Magazin Creem, schrieb Robert Christgau Anfang 1974, das Album sei "lausig" und die Musik gerade mal "kaum mehr als kompetent". Als Reaktion darauf verwarf Lou Reed Pläne, das Album im großen Stil auf die Bühne zu bringen. Mit der Zeit änderte sich die Rezeption aber nachhaltig: Der Rolling Stone listete "Berlin" exakt 30 Jahre später in der Liste der "500 besten Alben aller Zeit" im unteren Mittelfeld und viele Fans lernten diese abgründige Geschichte zu lieben. Die britische Tageszeitung The Guardian nannte das Album später einen "beautiful downer".

Der Hintergrund dieser Geschichte ist allerdings durchaus tragisch: Lou Reed hatte Berlin damals noch nie zu Gesicht bekommen, liebte aber – so sagte er in einem Interview – "die Idee einer geteilten Stadt. Es war rein metaphorisch". Die übergriffige, Drogen-befeuerte Geschichte von Jim und Caroline hat außerdem eindeutige Parallelen zu Lou Reeds Beziehung und Ehe mit Bettye Kronstad. Sie war 19 als sie Reed kennenlernte und 24 als die beiden sich trennten und nach nur einem Jahr Ehe wieder scheiden ließen. Der Musikjournalist Anthony DeCurtis, der ein guter Freund von Lou Reed war, schrieb in seiner Biografie Jahre später darüber, wie Kronstad darunter gelitten habe, dieses Album zu hören. DeCurtis schreibt: "Das Album ist selbst für den objektivsten Hörer ein harter Brocken. Für Kronstad wiederum war es eine niederschmetternde Erfahrung, es zu hören. Szenen aus ihrer Ehe und andere Details aus ihrem persönlichen Leben sind in die Lieder eingewoben. Selbst wenn sie als Kompositionen behandelt oder auf andere Weise fiktionalisiert wurden, waren sie für sie eindeutig identifizierbar und trafen sie mit großer Wucht."

Auch Kronstad selbst kam in dem Buch zu Wort. Sie erzählt, wie Reed zu der Zeit drauf war: "Lou war auf unserer letzten gemeinsamen US-Tournee übergriffig geworden, als ich ihn jeden Abend so nüchtern wie möglich auf die Bühne bringen musste... Er verpasste mir ein blaues Auge, als er mich das zweite Mal schlug. Dann habe ich ihm auch ein blaues Auge verpasst, und das hat ihn davon abgehalten, noch mal seine Fäuste zu benutzen. Jeder wusste, dass er übergriffig war – missbräuchlich mit seinem Alkohol, seinen Drogen, seinen Gefühlen – mir gegenüber. Er war damals unglaublich selbstzerstörerisch."

Lou Reed selbste antwortete in einem seiner raren Interviews im Jahr des Erscheinen des Konzertfilms, auf die Frage, ob Caroline eine reale Person sei oder aus verschiedenen realen Charakteren komponiert: "Sie war ein Kompositum, das Schlimmste von vielen Menschen (lacht), alles in einem vereint. Das ist für mich interessant beim Schreiben. Man pickt sich die Dinge, die man gerade für die Story braucht […] Man nehme vier oder fünf Frauen, die einen schlechten Tag haben, und daraus wird Caroline. Dann schreibst du über sie. Was kann man sonst tun? Das ist der einzige Ausweg."

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Vielleicht brauchte es den emotionalen Abstand aller Beteiligten, bis Lou Reed das Album noch einmal in voller Länge auf die Bühne bringen konnte. 2007 war es dann so weit. Lou Reed umgab sich an sechs Abenden im Warehouse Theatre in Brooklyn mit einer 30köpfigen Band, einem Chor junger Frauen und der stimmgewaltigen Künstlerin ANOHNI. Fernando Saunders spielte den elektrischen und Rob Wassermann den akustischen Bass, unter den Streichern ist die Cellistin Jane Scarpantoni, die oft mit Rock- und Popstars arbeitete – u. a. mit Bruce Springsteen, R.E.M. und Patti Smith. Im Hintergrund des Gigs lief ein Kurz-Film von Julian Schnabels Tochter Lola mit Szenen aus dem Album. Die Rolle der Caroline übernimmt darin die französische Schauspielerin Emmanuelle Seigner, bekannt aus Filmen wie Die neun Pforten, Schnabels Schmetterling und Taucherglocke oder Venus im Pelz.

Der Konzert-Film von Regisseur und Künstler Julian Schnabel ist ganz nah dran am Bühnengeschehen. Schnabel selbst hält eine kurze Eröffnungsrede, erzählt, dass er sich damals in diesem Album wiedergefunden hätte. Lou Reed ist 2007 sehr fit, schlank und aufgeräumt, sieht aus wie ein Uni-Professor, der regelmäßig zum Krafttraining geht. Er spielt diese dunklen Lieder konzentriert und mit dem richtigen Maß an Distanz, bevor er dann am Ende noch "Sweet Jane" anstimmt. Schnabel rückt Reed mit seinen Kameras geradezu auf die Pelle, man ist nicht wirklich Teil des Publikums, sondern noch etwas näher dran. Das wundert nicht, wenn man weiß, dass Julian Schnabel nicht nur ein Freund von Lou Reed war, sondern sich selbst auch mal als größten Fan bezeichnete. Vielleicht liegt es an dieser besonderen Chemie – und sicher auch an der anhaltenden Verehrung für Lou Reed – , dass Lou Reed's Berlin in schöner Regelmäßigkeit unter den meistgestreamten Filmen auf unserem ARTHAUS+ Channel auftaucht, wo er auch jetzt noch zu sehen ist.

DK

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