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Bild zu Molly Hyo Kim über Past Lives und die Macht des Schicksals

Molly Hyo Kim über Past Lives und die Macht des Schicksals

Die Expertin für südkoreanisches Kino und Professorin in Seoul sieht eine besondere Qualität in Celine Songs Debütfilm (Kinostart am 17. August)

16. August 2023

Past Lives – In einem anderen Leben erzählt eine Geschichte, die sich um das koreanische Konzept des In-Yun dreht. Was bedeutet In-Yun? Ist das ein Begriff, mit dem viele junge Koreaner*innen noch etwas anfangen können?

Ja. Wir sagen und benutzen dieses Wort oft im täglichen Leben. Es ist ein philosophisches Konzept – buddhistisch – im Sinne von Schicksal oder Kismet. Er beschreibt, wie Menschen füreinander bestimmt sind, die sich aus einem vorangegangenen Leben kennen und wiedertreffen. In Celine Songs Film sind es Nora und Hae-Sung, die als Kinder in Korea befreundet waren und als Erwachsene wieder Kontakt aufnehmen, viele Jahre nachdem Noras Familie Richtung Kanada ausgewandert ist.

Es ist eine Glaubenssache?

In-Yun ist etwas, woran wir Koreaner*innen unabhängig von unserer Religion glauben. Ich habe viele koreanisch-amerikanische Freund*innen, die darüber sprechen, und ich kenne einen anderen koreanisch-amerikanischen Filmemacher, der an einem Filmprojekt über In-Yun arbeitet. Für uns Koreaner*innen ist In-Yun etwas Alltägliches, es fühlt sich nicht exotisch oder tiefgründig an. Es ist eine Tradition und auch etwas, das wir für selbstverständlich halten. Für die
Regisseurin Celine Song, deren Familie wie die der Hauptfigur Nora nach Kanada migirierte, könnte es aber etwas Besonderes sein, in ihrer Arbeit wird sie sich vermutlich immer wieder mit der Suche nach Wurzeln und Identität beschäftigen. Was wiederum eine völlig neue und spannende Perspektive für mich ist.

Die Kindheit in Seoul © Twenty Years Rights LLC

Die Kindheit in Seoul © Twenty Years Rights LLC

Wie verhält sich die US-Produktion Past Lives zu Filmen des zeitgenössischen oder älteren südkoreanischen Kinos? Oder sehen Sie ihn auch eher in der Nähe von amerikanischen Filmen wie Richard Linklaters Before-Trilogie, mit der er bereits verglichen wurde?

Past Lives unterscheidet sich sehr von den in Korea produzierten Filmen. Zunächst einmal ist der Film ein Melodram, aber er schildert Noras Reise, und auch die von Hae Sung, auf persönliche und realistische Weise. Koreanische Filme können sehr extrem sein, vor allem in der Art und Weise, wie sie Gefühle darstellen. Wenn es um Melodramen geht, wird es sogar noch exzessiver. Das ist einer der Gründe, warum man in koreanischen Melodramen so viele weinende Figuren sieht – die Koreaner*innen nennen dieses Phänomen "Shinpa". Mir hat der Ton von Past Lives sehr gefallen, seine Subtilität. Der Film ist sehr raffiniert, die Regisseurin übertreibt nie etwas, was es dem Publikum leichter macht, mit Nora mitzufühlen, ohne die Dinge groß und laut zu inszenieren, wie es die meisten anderen koreanischen Filme tun.

Und der Vergleich mit Linklater?

Past Lives gibt sich nicht so viel Mühe, das Publikum davon zu überzeugen, dass es versteht, was Nora tut und was nicht. Es ist einfach so fesselnd – und das ist die Stärke dieses Films. Ich verstehe, warum einige Leute Linklaters Filme erwähnt haben, aber mir sind sie nie als Bezugspunkt in den Sinn gekommen. In den Filmen geht es jeweils um die Romanze zweier Hauptfiguren und sie enthalten viele Gesprächsszenen, weshalb die Leute wahrscheinlich an die Before-Filme denken. Es mag zwar formale Ähnlichkeiten geben, aber es gibt so viele dialoglastige Liebesfilme. In Past Lives geht es im Wesentlichen um Noras Reise auf der Suche nach ihrer Seele. Es geht um Liebe, aber nicht ganz. Es geht mehr darum, dass sie durch ihre Wurzeln zu sich selbst findet.

Triangle of Love © Twenty Years Rights LLC

Triangle of Love © Twenty Years Rights LLC

Viele koreanische Produktionen, die hier in den Kinos laufen - und Korea erlebt in Deutschland einen Boom, was Filme, K-Pop und koreanisches Essen angeht - wirken in ihrer Inszenierung recht drastisch, auch in Bezug auf die Gesellschaftskritik, wie etwa Parasite. Ist Past Lives dagegen ein subtiler politischer Film?

Ich sehe in diesem Film nicht viele politische Anspielungen, zumindest nicht explizit, aber ich würde sagen, sie hätten eingebaut werden können. Der Film handelt von Einwanderern. Die Einwanderung, insbesondere in die USA, war in den 1980er und 90er Jahren in Korea ein großes Thema. Die Menschen wollten auswandern in der Hoffnung, den amerikanischen Traum zu verwirklichen, weil das Land stark unter der Militärdiktatur litt. Sie sehnten sich nach politischer und sozialer Freiheit. Obwohl das bei Noras Familie nicht so der Fall ist, sehen wir Noras Problem mit ihrer Identität als Immigrantin – und dies könnte auch in Verbindung mit dem persönlichen Werdegang Celine Songs gesehen werden. Ihr Vater, der sehr bekannte koreanische Filmemacher Song Neung-han, zog auf dem Höhepunkt seiner Karriere nach Kanada, wahrscheinlich in der Hoffnung auf bessere künstlerische Chancen. Die Geschichte von Noras Eltern, die ebenfalls Künstler sind, scheint mir von der Geschichte des Vaters der Regisseurin abgeleitet.

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Nora lebt mittlerweile in New York und ist mit dem US-Amerikaner Arthur verheiratet. Beide sind Autoren, das verbindet sie auch auf der Ebene des geschriebenen Wortes. Als Hae-sung zu Besuch kommt, steht Arthur außen vor, da seine Koreanischkenntnisse nicht so weitrechend sind. Welche Rolle spielt Sprache in dem Film?

Die Sprache fungiert hier als ein entscheidendes Mittel. Sie symbolisiert alles, was Nora nicht ist oder nicht hat. Das Gleiche gilt für Arthur (oder Hae Sung). Sie steht für die Veränderungen und Unterschiede zwischen zwei Menschen, die zwei verschiedene Wege eingeschlagen haben.

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Past Lives ist eine Dreiecksgeschichte über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Gefühlen und Beziehungen und Geschlechterrollen im Wandel. Was sagt uns der Film über die südkoreanische Gesellschaft und Kultur in dieser Hinsicht?

Der Film thematisiert in meinen Augen, dass es bestimmte Dinge und Werte gibt, die sich nicht ändern oder vielleicht nicht ändern sollten. Die koreanische Gesellschaft ist sehr schnelllebig – genau wie das koreanische Kino – und anfällig für Veränderungen. Im Kern versuchen die Menschen jedoch, ihre Erinnerungen lebendig zu halten und nicht zu vergessen, woher sie kommen und wer sie waren. Und Past Lives stellt diese Art von Werten und die Wurzeln, an die sich die Koreaner*innen ständig erinnern, sehr gut dar.

Molly Hyo Kim ist aktuell externe Professorin am Collage of Humanities an der Hanyang University in Seoul

WF

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