Die Buchvorlage zu The Outrun ist ja eine sehr intensive Leseerfahrung, die man nicht so schnell vergisst. Wie ist das Buch in dein Leben gekommen?
Ganz unspektakulär per E-Mail – von der Produzentin Sarah Brocklehurst. Da war ich gerade mit Mann und Kind in Los Angeles und mit der Postproduktion von Unforgivable beschäftigt. Es war Corona, ich fühlte mich irgendwie lost in dieser riesigen Stadt und ich konnte nicht mehr nach Europa, um meine Eltern zu besuchen. In dieser Situation "The Outrun" zu lesen, hat mich auf so eine ganz seltsame Art und Weise gerührt. Allerdings dachte ich gleich: Nie im Leben ist das verfilmbar! Zu der Zeit war aber schon Saoirse Ronan als Hauptdarstellerin dabei – und irgendwie hat mich das alles doch ziemlich gereizt.
Wann kam die erste Erkenntnis, dass man doch einen Film draus machen kann?
Schon beim zweiten Lesen. Nach und nach schälten sich einzelne filmische Momente heraus. Diese Szene in der Bar, wo sie ihren Kopf gegen die Wand haut, damit sich ihr Arm wieder bewegt, zum Beispiel – das ist schon ein krasses Bild. Aber dann merkte ich wiederum, was alles in dieser Geschichte steckt, wie komplex sie ist. Klar, es geht um Alkoholismus und Suchtkrankheit, aber eben auch um viel mehr. Es geht um den Prozess der Heilung, um eine Frau und ihre Heimat, um einen Ort, von dem man wegwill, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Es geht um die Familiengeschichte, um die Vererbung von geistigen Erkrankungen und seelischen Narben. Es geht um die Folklore, um die Geschichte der Orkney Inseln. Ich hatte anfangs auch keine Ahnung, wo genau die liegen und musste das erst mal googlen. Irgendwann hat sich mein Blick auf das Buch dabei geändert. Ich fand es nicht mehr unverfilmbar, sondern fragte mich, was es eigentlich bräuchte, um daraus einen guten Film zu machen, der die Radikalität und die Poesie des Buches am Leben erhält und es nicht in so eine starr-lineare Form zwingt. Ab da wurde die Arbeit daran erst zu einer Herausforderung und dann zu einer Art Sehnsuchtsort für mich. Nach dieser riesigen Stadt Los Angeles hatte ich einfach ein großes Bedürfnis, ans Ende der Welt nach Schottland zu fahren, um mich zwei Winter lang in das kleine Cottage einzuschließen.
War es schwierig, vom sehr großen Set in diese sehr spezielle Situation auf den Orkney Inseln zu wechseln?
Das ging ganz gut. Natürlich hatten alle drei Filme ihre Herausforderungen für mich. Bei Systemsprenger war es so, dass wir keine Kohle für gar nichts hatten, jede*r von uns fünf Jobs gleichzeitig machte und man diesen Film gegen tausend Widerstände verteidigen musste. Bei Unforgivable war es dann plötzlich ein Riesen-Set und alles war möglich. Aber dann kam Corona und der Dreh wurde auf halber Strecke erst einmal abgebrochen. Keiner wusste, wie es weitergeht und wir mussten dann unter ganz, ganz, ganz anderen Bedingungen die zweite Hälfte irgendwie fertigkriegen. Bei The Outrun war es dann eben diese extreme Natur, in der man dreht. Mit einer sehr limitierten Infrastruktur, denn man ist im wahrsten Sinne auf einer einsamen Insel.
Wie darf man sich das vorstellen?
Das Filmteam hat die Einwohnerzahl von Papa Westray – also dieser kleinen Insel, wo Rona ganz zum Schluss ist – fast verdoppelt. Wir haben bei den Locals zu Hause gewohnt. Wir waren auf sie angewiesen. Wir konnten keine LKWs mit Licht auf die Insel bringen. Wir mussten uns alle total reduzieren. Außerdem hatte ich mein Baby noch mit am Set. Mein kleiner Sohn war damals beim ersten Flug nach Schottland sechs Monate und wurde dann ein Jahr alt, während wir den Film dort drehten. Mit all dem hatten diese Dreharbeiten also nochmal ihre ganz eigenen Herausforderungen. Wir mussten uns ja der Natur anpassen und immer gucken, ob die Sonne morgen scheint, ob es regnet, ob es vielleicht zu windig für Außendrehs ist. Das macht dich zwangsläufig sehr flexibel. Wir konnten eine Sturmszene ja nur filmen, wenn es stürmt. Aber der Wind darf auch nicht zu heftig sein, weil es dann zu gefährlich wird, weil jemand von der Klippe fallen könnte. Vor Ort waren natürlich Leute am Set, die für die Sicherheit zuständig sind. Wenn die mir sagen, dass ein Dreh an einem bestimmten Ort nicht zu verantworten wäre, höre ich selbstverständlich auf sie, selbst wenn es total schade ist, das visuell nicht im Film zu haben.
Du teilst dir die Writing Credits für das Drehbuch mit Amy Liptrot. Wie genau lief die Zusammenarbeit ab? Das stelle ich mir gar nicht so leicht vor, wenn beide ihr Handwerk verstehen und eigene, starke Schreibstimmen haben – noch dazu bei einer so persönlichen Story.
Der Prozess begann damit, dass ich erstmal ein paar Monate ganz allein mit dem Film und dem Buch verbringen musste. Ich wusste, dass ich so eng wie möglich mit Amy zusammenarbeiten wollte. Schon allein aufgrund der Verantwortung, die ich empfunden habe – ihr und ihren Eltern gegenüber. Das Team und ich ziehen danach einfach weiter zum nächsten Projekt, aber sie wird für den Rest ihres Lebens mit dem Film leben müssen – und ihre Familie auch. Amy hat sich zwar schon einmal entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen damit, okay – aber ihre Eltern haben sich nicht dafür entschieden. Und jeder in Orkney, der Interesse daran hat, wird diesen Film sehen können.
Mir war es also total wichtig, dass sie und ihre Eltern immer noch erhobenen Hauptes durch die Straßen von Kirkwall laufen können. Deshalb musste ich Amy so nah wie möglich reinholen. Sie war oft am Set, sie konnte immer kommen, wenn sie wollte. Sie hat jeden Tag die Muster gesehen. Alles, was wir gedreht haben, wurde ihr digital hochgeladen. Das ist relativ selten bei einer Roman- oder Buch-Verfilmung. Aber dadurch, dass es ihre eigene Geschichte ist, dachte ich mir, dass es ja gar keinen Grund gibt, ihr irgendwas zu verheimlichen. Wir brauchen ihr Feedback. Sie muss das begleiten.
Und wie sah das konkret beim Schreiben aus?
Trotz all dem brauche ich meine eigene kreative Vision, um einen Film inszenieren zu können, deshalb bin ich zu Beginn eine Weile ins kreative Exil gegangen. Passte ja auch ganz gut: Ich war eh in Los Angeles und alle anderen in Europa. Ich hatte ein Schreibstipendium und saß erst in der Villa Aurora und dann im Thomas-Mann-Haus. Da bin ich das Buch Seite für Seite mit Farbstiften durchgegangen. Es gab zum Beispiel jeweils eine Farbe für Folklore, Audio, Geschichte, Orkney, London, Kindheit, Teenager-Zeit und so. Danach habe ich das Buch noch mal durchgearbeitet und habe all die Momente, die für den Film wichtig sind, in der jeweiligen Farbe auf Karteikarten geschrieben.
Im Thomas-Mann-Haus gab es so einen riesigen Tisch. Darauf habe ich tagelang diese Karten arrangiert, daraus ein Beat-Sheat geschrieben – und das war nach zwei oder drei Monaten das Erste, was ich überhaupt geteilt habe. Danach haben wir sehr eng zusammengearbeitet – also Saoirse Ronan, Amy und ich. Geschrieben habe nur ich. Aber Amy hat sich so viel Zeit genommen, ist stundenlang alles mit mir durchgegangen, war immer für Fragen erreichbar – da war es für mich relativ schnell klar, dass sie auch einen Credit bekommt.
Mir fiel bei meinem Interview-Roundtable mit Saoirse und bei anderen Gesprächen auf, dass viele Journalist:innen und Kritiker:innen sehr intensiv auf den Alkoholismus als Thema eingehen und wie sie das so überzeugend spielen kann. Manchmal kam es mir vor, als würde das viele andere Themen in Buch und Film ein wenig überstrahlen. Hast du diese Erfahrung auch gemacht?
Nein. Eigentlich nicht. Ich glaube, das ist oft eher so die Einstiegsfrage, deshalb wirkt es vielleicht so. Das ist natürlich ein wichtiges Thema, aber für mich ist der Film eher die Geschichte einer Heilung und nicht einer Sucht. Die ist natürlich Teil davon, man muss mit ihr durch die Hölle gehen, um auch irgendwie da wieder rauszukommen. Aber für mich ist The Outrun einer der positivsten Filme, die ich je gemacht habe.
Ihr habt oft an den originalen Schauplätzen gedreht. Zum Beispiel in der Hütte, in der Amy große Teile ihres Buchs geschrieben hat. Ich glaube immer ein wenig daran, dass Orte so eine gewisse Aura haben, wenn man weiß, was an ihnen passiert ist. Wie war diese Erfahrung für euch? Und für Amy, die dann ja auf eine veränderte Version ihrer sehr schwierigen Lebensphase schaut, die exakt an gleicher Stelle nachgespielt wird. Das ist ja schon irgendwie weird, wenn man so drüber nachdenkt …
Am Anfang habe ich versucht, das zu umgehen. Ich dachte immer: "Das ist zu krass für Amy, wenn wir das machen!" Aber je länger wir vor Ort waren und Alternativen gesucht haben, desto öfter haben wir gemerkt, dass das eigentlich die einzigen Orte sind, die Sinn machen. Es ist ja nicht nur so, dass wir in der Hütte gedreht haben, wo sie dieses Buch geschrieben hat. Wir haben die Kindheitsszenen in dem Haus gedreht, in dem sie aufgewachsen ist. Die Farm-Szenen spielen auf der Farm, auf der Amy mit ihren Eltern lebte. Der Caravan, in dem ihr Vater diese depressive Phase hat, ist der Caravan, in dem ihr Vater bis zu seinem Tod gewohnt hat. Dieser kleine Raum, wo ihr Treffen mit den Anonymen Alkoholikern war, ist der Raum, wo Amy ihre AA-Meetings hatte. Weird ist gar kein Ausdruck. Das wurde immer krasser. Ich habe jedes Mal drüber gedacht, Alternativen zu finden. Wir wollten selbst einen Caravan neben den originalen bauen, aber das macht ja auch keinen Sinn. Ich habe jede dieser Entscheidungen mit Amy gegengecheckt, und sie sagte mir immer: "Na ja, in meinem Kopf sieht es ja eh so aus, also dreht es da ruhig."
Als ich irgendwann akzeptiert habe, dass dieser Film es anscheinend so haben möchte, war es aber total schön. Dann war es eher befreiend zu wissen, dass dieser komische Tanz zwischen Realität und Fiktion hier einfach noch eine weitere Pirouette dreht.
Ihr Name fiel ja schon ein paarmal. Aber wie war jetzt es eigentlich, mit Saoirse Ronan zu drehen, die sich ja auch stark in die Figur der Rona eingebracht hat, und die den Film schauspielerisch ja fast im Alleingang tragen muss?
Es war total schön, mit ihr zu arbeiten. Weil es natürlich sehr beruhigend war, zu wissen, dass wir eine Schauspielerin haben, die das tragen kann. Als ich das Buch las, war ich fast ein wenig froh, dass diese Entscheidung schon gefallen war. Sie war ja schon vor mir an Bord. So ein Film kann ja auch ganz schnell langweilig oder banal werden, wenn die Besetzung nicht stimmt. Ich fand es auch mutig, dass sie das machen wollte. Die Rolle ist ja schon anders als das, was sie bisher gespielt hatte. Und Saoirse ist von ihrem Wesen ist auch ein sehr unkomplizierter Mensch. Die spielte dann manchmal tagsüber die intensivsten Szenen und hat dann abends mit dem ganzen Team und ein paar Nachbarn in bis in die Morgenstunden Karaoke gesungen. War also sehr schön, mit ihr zu arbeiten.
DK