Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen kennen den Impuls nur zu gut, in eine andere Rolle zu schlüpfen, einen neuen Namen und eine erfundene Identität anzunehmen. Das ist prinzipiell faszinierend, kann aber mitunter auch leicht beunruhigend wirken. Es gibt eine wichtige Szene in Anthony Minghellas Der talentierte Mr. Ripley (1999), in der Matt Damon als Tom Ripley seinem designierten Opfer Richard "Dickie" Greenleaf die eigene Kunst der Hochstapelei so perfekt vorführt, dass Dickie eine Gänsehaut bekommt – plötzlich ist sein Interesse am anderen geweckt. Tom macht nämlich Dickies schwerreichen Vater nach. Und zwar verblüffend echt. Toms scheinbar zufälliges Zusammentreffen mit Dickie und dessen Verlobter Marge war gar kein Zufall, der alte Greenleaf hatte Tom beauftragt, seinen nichtsnutzigen Sohn aus Italien zurück in die USA zu locken. Er schien der perfekte Kandidat. Ein strebsamer junger Mann, freundlich und demütig. Aber Tom Ripley denkt nicht daran, sich eine mickrige Belohnung für die Rückholaktion zu verdienen, er möchte stattdessen die Existenz von Dickie Greenleaf komplett übernehmen. Er will sein Boot. Seine Frau. Seinen Namen. Sein Leben. Hinter der Grundidee von Patricia Highsmith’ hier bereits zum zweiten Mal verfilmten Roman steckt folgender Gedanke: Wie wäre es, wenn ein Kind aus bescheidenen Verhältnissen plötzlich das Leben eines in wohlhabenden Kreisen aufgewachsenen Mannes führen könnte – und all das zu schätzen wüsste, was dieser aus Gewohnheit niemals hatte würdigen können.
Was für ein Leben! Delon als Ripley © Studiocanal
Die oben beschriebene Szene zeigt natürlich auch das große Talent des Ripley-Darstellers Matt Damon. Es gehört übrigens zur genialen Geschichte Highsmith’, dass es sich bei den Hauptfiguren keineswegs um einen hässlichen und einen gutaussehenden Kerl handelt, die in eine Ménage-à-trois mit der attraktiven Marge (Gwyneth Paltrow) verstrickt werden. Äußerlich stehen sie einander in nichts nach. Noch deutlicher wird der Umstand, dass es sich um unüberbrückbare Differenzen durch angeborene Klassenzugehörigkeit handelt in René Cléments Adaption aus dem Jahr 1960 mit dem ungleich dramatischeren Titel Nur die Sonne war Zeuge. Darin gibt ein umwerfender Alain Delon den Ripley, der sich nach dem Mord an Greenleaf (der hier Philippe heißt) mit der Zeit in eine immer verwickeltere Lügenkonstruktion verstrickt. Er folgt einem gewieften Plan, und wenn es Abweichungen gibt, weiß er zu improvisieren. Als wolle er seinem Opfer Greenleaf nachträglich beweisen, dass man ihn stets unterschätzt hatte, umschifft er sämtliche Klippen und erobert auch das Herz von Marge (damals gespielt von Marie Laforêt) – während es zu den psychologischen Kniffen Patricia Highsmith’ gehört, dass sie den Snob Greenleaf bewusst mit dem Feuer spielen lässt. Die Nähe zu seinem späteren Mörder verspricht selbst einem mit dem goldenen Löffel im Mund geborenen Lebemann einen gewissen Nervenkitzel. So buchstabiert man Todessehnsucht…
Lässig unterwegs: Hopper als Ripley © Studiocanal
Alain Delon verkörpert perfekt die Komplexität des Ripley-Charakters, der auch im Film sympathischer gezeichnet wird als der des Ermordeten, obwohl sich Tom Ripley schon ziemlich früh als eiskalter Killer entpuppt. Das ist ein ungewöhnlicher Kunstgriff. Und man kann sich streiten, welches Ende der Geschichte wohl "konventioneller" oder "moralischer" ist – da gibt es schließlich Unterschiede zwischen dem Roman beziehungsweise zwischen den beiden genannten Filmen. Abweichungen, die auch der jeweiligen Zeit ihrer Entstehung geschuldet sind. Fest steht, dass Patricia Highsmith bis zum Ende ihres langen Lebens – im Januar 2021 wäre die vor 30 Jahren für den Literaturnobelpreis nominierte Autorin Hundert geworden – von der Figur des Tom Ripley gefesselt blieb. Eines von mehreren Ripley-Büchern aus ihrer Feder diente Wim Wenders als Vorlage für Der amerikanische Freund (1977). Dennis Hopper spielt Tom Ripley, der den todkranken Jonathan Zimmermann, dargestellt von Bruno Ganz, als Auftragsmörder gewinnen will. Ein höchst sensibel inszeniertes Psychodrama. Es zeigt Ripley als einen Menschen, der die Gebräuche derjenigen, die er zu imitieren pflegt, derart fest verinnerlicht hat, dass er ebenso wie sie über Leichen geht, um seine Ziele zu erreichen. Skrupellos. Doch mit Zimmermann trifft er auf jemanden, der sich fürs Leben entscheidet, weil er keines zu verlieren hat. Nichtsdestotrotz: Patricia Highsmith hat mit dem cleveren Emporkömmling Ripley eine zeitlose Figur geschaffen, die uns auch in Zukunft sicher noch öfter im Film begegnen wird. Eine Rolle, die viele Schauspieler reizen dürfte, da sie nicht nur ein oder zwei, sondern drei oder vier Gesichter offenbart. Egal, ob der Darsteller nun Delon, Damon oder Hopper heißt. Oder…
WF