Wenn man sich an Paris, Texas erinnert, denkt man unweigerlich an seine leuchtenden Farben. An die rote Mütze von Travis Henderson, die er trägt, während er durch die Mojave-Wüste streift. Vielleicht auch an die grünen Sitze vor dem Diner am Highway, auf denen Travis und sein Bruder später Rast machen – aber ganz bestimmt an Janes pinken Wollpullover mit dem tief ausgeschnittenen Rücken, den sie ein bisschen so wie ein kurzes Kleid trägt. Blinkende Ampeln und Neonreklamen mögen haften geblieben sein. Wobei sämtliche Farbtupfer in Wim Wenders’ Roadmovie auch als filmische Bezugspunkte fürs Kurzzeitgedächtnis dienen. Gleich hat man Travis’ Mütze wieder im Sinn, als sein Sohn Hunter später hinter dem Lenkrad eines knallroten VW-Käfers sitzt. Passt gut, dass Travis` Bruder Walt dem Jungen an dieser Stelle vorhält, er wolle sich ja wohl verstecken, woraufhin Hunter antwortet, nein, er möchte doch nur Auto fahren. Hatte Travis sich etwa nicht versteckt und vor der Verantwortung für Hunter gedrückt, gerade indem er vier Jahre lang ständig unterwegs war? Und wie verhält sich Hunters schwer erwachsen wirkende Traurigkeit zur Verzweiflung seines ach so erwachsenen Vaters, die uns in vielen Momenten eher kindlich naiv vorkommt? Die Farbe sendet Signale ans Unterbewusstsein. Noch ein paar Mal sehen wir in Paris, Texas Rot, bevor wir uns wieder halbwegs im Klaren darüber sein können, ob dies eher Gefahr oder Liebe symbolisiert. Aber die Frage, ob Travis irgendwann Ruhe und Glück finden wird, bleibt selbst nach über zwei Stunden Film weiter offen. Dafür haben wir viele andere Dinge gelernt. Zum Beispiel, dass gebrochene Herzen nicht in Lichtgeschwindigkeit heilen.
Harry Dean Stanton als Travis
Heute gilt Paris, Texas als einer der erfolgreichsten Filme in Wim Wenders’ imposanten Lebenswerk. Ein Jahr nach seiner Entstehung 1984 wurde er bei den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Kritiker*innen und Publikum waren sich einig in der Begeisterung für die Schönheit der sensiblen Filmerzählung über materielle und psychische Durchgangsstationen des modernen Lebens. Wenders’ Ballade über die Verdinglichung der Emotionen im 20. Jahrhundert traf einen Nerv. Nach Lage der Dinge war der gebürtige Düsseldorfer da bereits ein hoch angesehener Filmemacher, der zehn Jahre zuvor mit Alice in den Städten seinen Durchbruch gefeiert hatte. 1977 sorgte Wenders’ Patricia Highsmith-Adaption Der amerikanische Freund mit Bruno Ganz und Dennis Hopper auch in den USA für Aufsehen. Bei der Arbeit an Paris, Texas konnte er daher leicht auf ein außergewöhnliches Ensemble und ein hochveranlagtes Team zurückgreifen. Die Kamera führte sein langjähriger Begleiter Robby Müller. Wim Wenders’ Gabe besteht drin, Aha-Momente zu inszenieren, in denen nichts an der Oberfläche so bleibt, wie es uns im echten Alltag erscheint. Dennoch spiegeln sich die reale Verhältnisse im großartigen Spiel der Hauptdarsteller*innen Harry Dean Stanton als Travis, Nastassja Kinski als Jane, Dean Stockwell als Walt, Aurore Clément als Anne und Hunter Carson als Hunter. Dazu glänzen noch Stars wie Bernhard Wicki und John Lurie in Kurzauftritten, das Drehbuch verfasste der auch als Schauspieler bekannte Dramatiker Sam Shephard.
Hunter an Travis, bitte kommen…
Wenn man sich an Paris, Texas erinnert, denkt man zwangsläufig an seine Musik. Dann hat man Ry Cooder im Ohr, der gefühlt neben der Leinwand oder dem Fernseher sitzt und den Gang der Filmhandlung mit seiner Slide-Gitarre kommentiert, als improvisiere er den Score wie ein Pianist beim Stummfilm. Wenn Travis den Blues hat, dann loten Cooders Finger an den Saiten alle Facetten der Verletzlichkeit aus und sobald etwas passiert, das die Stimmung sanft hebt, fordert er die Herzen des Publikums zu einem kurzen Tänzchen auf. Man denkt sicher an die Geräusche fahrender Autos, ratternder Züge und an den Sound der Flugzeuge über L.A. Womöglich sind einem sogar The Mydolls noch präsent, deren Probe man mitbekommt, bevor Travis seine Jane nach so vielen Jahren in einem texanischen Peepshow-Etablissement wiedersieht. In diesem Stadium der Geschichte, als Jane mit ihrem rosa Pullover einen neuen Farbton in die Komposition trägt, ist zudem etwas anderes deutlich geworden. Wenders hat seiner Hauptfigur den Mühlstein einer gescheiterten bürgerlichen Existenz um den Hals gehängt. Mehr noch: Travis schleppt eine tragische Geschichte mit sich herum, die vielleicht in ein Buch, jedoch in keinen Koffer passt. Und wenn man sich an Paris, Texas erinnert, dann klingen seine Worte nach, etwa jenes, mit dem Travis das Schweigen gegenüber Bruder Walt bricht: "Paris". Wir erfahren, dass er wohl in Paris, Texas gezeugt wurde und dort ein Stückchen Land erworben hat, auf dem er eigentlich mit seiner Freundin Jane und dem gemeinsamen Sohn Hunter hatte leben wollen. Doch dann begann er selbst am Fundament dieses Traums zu zündeln. So lange, bis er wirklich Feuer fing.
WF