Wenn man heutzutage von Skandalfilmen spricht, dann meint man in der Regel solche, die jene Schubladisierung bewusst provozieren – und letztlich von der öffentlichen Aufmerksamkeit profitieren. Für Peeping Tom – Augen der Angst galt zunächst das Gegenteil. Der Psychothriller von Michael Powell aus dem Jahr 1960 bedeutete nicht nur für den Regisseur großer Produktionen wie Der Dieb von Bagdad einen Karriereknick. Er rückte auch den österreichischen Hauptdarsteller Karlheinz Böhm, den seine Rolle als Kaiser Franz Joseph an der Seite von Romy Schneider/ Sissi berühmt gemacht hatte, in ein unvorteilhaftes Licht. Die Kritik ließ kein gutes Haar an Böhm und Powell – mit Peeping Tom hatten sie eindeutig gegen die noch herrschenden Moralvorstellungen der 1950er-Sissi-Jahre verstoßen.
Mark Lewis ist ein merkwürdiger Protagonist für einen Film. Ein voyeuristisch veranlagter Frauenmörder, der schleichend die Empathie des Publikums für sich beansprucht – ob er sie von jeder einzelnen Zuschauerin und jedem einzelnen Zuschauer erhält, sei mal dahingestellt. Die Figur funktioniert aber trotz der grausigen Veranlagung nicht bloß als Monster, ebenso wenig wie dieser Mark Lewis zum Helden taugt. Böhm bewegt sich grazil auf dem dünnen Eis zwischen den Extremen und offenbart eine schauspielerische Klasse und menschliche Tiefe, die er auch in den folgenden Jahrzehnten (etwa unter Fassbinder) bestätigen sollte. Regisseur Powell schafft es, die Thriller-Elemente im Milieu der Erotik und mithin der kommerzialisierten unterdrückten Sexualität sowie die Story über den vom Vater für psychologische Experimente benutzten Sohn, der eine Vorliebe fürs Spannen entwickelt, mit einer Liebesgeschichte zu verknüpfen. Neben dieser Beschäftigung mit der Prüderie und dem bürgerlichen Mief der Nachkriegsjahre geht es in Peeping Tom aber auch um eine persönliche Perspektive des Mannes hinter der Kamera: Was hat der Scopophile mit dem Cinemascopophilen zu tun? Kann ein Schuss durch die Linse jemanden genauso verletzten wie die Kugel aus einer Waffe? Welche verdrängten Erlebnisse treiben Filmemacher um, die ihre Darsteller*innen herumkommandieren und ihr Unterbewusstes in laufenden Bildern verarbeiten?
Angesichts dieser Komplexität scheint es heute mehr als nachvollziehbar, dass sowohl Michael Powell als auch Karlheinz Böhm damals vom schlechten Feedback überrascht waren, auch wenn es kaum verwundert, dass die Kirche wenig Begeisterung zeigte. Schließlich bestand die angebliche Geschmacklosigkeit von Peeping Tom gerade in seinem Blick hinter die unheiligen Kulissen einer Filmproduktion (nicht nur durch den Film im Film, der immer wieder als Szenario auftaucht). Das war jedoch kein kalkulierter Skandal, vielmehr eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den medialen Eigenschaften der eigenen Tätigkeit (und der Rolle als Mann in entscheidender Position). Mark Lewis stellt durch seine unappetitlichen Neigungen aus gegenwärtiger Perspektive sogar einen geradezu visionären Charakter dar. Nie trennt er sich von seiner Kamera, wodurch er den Blick durchs Schlüsselloch zur Norm erhebt. Kommt einem ganz schön vertraut vor: Mark Lewis ist ein Verbrecher, der seine Taten filmt und sie im 21. Jahrhundert mit Sicherheit ins Netz stellen würde. Einerseits beherrscht er sein Metier, andererseits hat er Schwierigkeiten, Realität und Zerrbild auseinanderzuhalten. Auch das ist eine Message: Der kaputte Typ ist nicht bloß ein verquerer Schöngeist. Er ist definitiv gefährlich. Lewis‘ Opfer tröstet es auch nicht, dass der Vater die Schuld daran trägt.
Peeping Tom gilt längst als absolutes Meisterwerk. Mike Patton benannte eine seiner Bands nach dem Film, Martin Scorsese gehört zu seinen Bewunderern (im Bonusmaterial der 4K-restaurierten Fassung kann man sich davon überzeugen). Das heißt nicht, dass er bei aller Virtuosität das Publikum nicht auch verstören würde. Es gehört nun mal zu seiner Qualität als Psychothriller, der auf einer Stufe mit Hitchcocks Meisterwerken steht. Und ein Feelgood-Movie in diesem Genre? Sowas wäre doch wahrhaftig ein Skandal!
WF