Napoleon ist alles, was Kino jemals sein wollte. Napoleon ist technisch brillant inszeniert. Napoleon ist seiner Zeit weit voraus. Napoleon hat Witz und Vision. Napoleon vermittelt, warum so viele junge Menschen für ihn in den Krieg zogen. Napoleon lebt vom Charisma seiner Hauptdarsteller. Napoleon zeigt das Feuer der französischen Politik zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Napoleon hat ein Finale, das Filmgeschichte geschrieben hat.
Wenn Sie kürzlich im Kino gewesen sein sollten, um Napoleon von Ridley Scott zu sehen, ahnen Sie vielleicht schon, dass ich hier von einem anderen Film rede. Und ich muss zugeben: Ich hasse es, Filme zu dissen. Aber Scotts Napoleon hat mich einfach auf so vielen Ebenen enttäuscht, dass mir der Nachmittag im Kino reichlich verschwendet vorkam. Die Schlachtenszenen haben ihre Schauwerte, die Hinrichtung von Marie-Antoinette zu Beginn des Films ist ein guter Schockmoment, Joaquin Phoenix bleibt auch in Rollen, die so gar nicht zu ihm passen, ein klein wenig faszinierend, aber alles in allem hatte ich nach den 158 Minuten vor allem das Gefühl, einen fürchterlich dummen Film gesehen zu haben. Die hölzernen Dialoge und diese Love-Story, die sich ein männlicher Ü-50-Drehbuch-Autor mit der Hand am Sack und wirklich null Verständnis oder Interesse für diese faszinierende Frau namens Joséphine de Beauharnais ausgedacht hat, machen es schwer, Ridley Scotts Napoleon zu mögen. Und bei all dem Übel ist es ja weiterhin ein – historisch recht frei interpretiertes – Biopic, das Regisseure und Drehbuchautoren dazu bringt, Handlung und Tempo wie eine Checkliste anzulegen, die es abzuarbeiten gilt. Da hilft dann auch die visuell oft überzeugende Action nicht mehr viel.
Als ich nach meinem nachmittäglichen Kinobesuch nach Hause kam und auf meinem Smart-TV nach der passenden Abend-Unterhaltung suchte, sah ich, dass auch bei ARTHAUS+ gerade ein Napoleon zu sehen ist. Es handelt sich dabei um den Film aus dem Jahr 1927 – Regie, Produktion und Drehbuch stammen von Filmpionier Abel Gance. Eigentlich wollte ich nur mal kurz reinschauen, weil mich die Spielzeit von drei Stunden und 43 Minuten abschreckte – und die Tatsache, dass dieser Napoleon ein Stummfilm ist. Nach zehn Minuten hatten mich Musik und Bilder dann aber so gepackt, dass ich bis zum spektakulären Finale dranblieb.
Ich hatte bereits über diesen Film gelesen – vermutlich, als er 2016 in restaurierter Form zum ersten Mal seit langem wieder in ausgewählten Kinos gezeigt wurde. Der britische "Guardian" schrieb damals in einer fast hymnischen Kritik: "Die pure Ambition, der Elan und seine leidenschaftliche Ansprache an das Publikum sind bei diesem Film außergewöhnlich. Wie Napoleons Adler schwingt sich Gances Kamera immer wieder in die Höhe und liefert ständig neue, atemraubende Blicke auf seinen Protagonisten. Der Film endet schließlich mit einem verblüffend kühnen Panorama-Triptychon aus drei Kameras, mit dem Gance das Schlachtfeld von Napoleons triumphalem Italien-Feldzug zeigt: mal ineinandergreifende Szenen, mal geteilte Bilder, mal spiegelsymmetrische Tafeln, die alle in einer Trikolore in Rot, Weiß und Blau gipfeln." Auch wenn ich hier das Ende spoiler: Spätestens diese Szenen werden Ihnen den Atem rauben und Ridley Scotts "Waterloo"-Ende noch trister und verregneter erscheinen lassen.
Abel Gances Napoleon beginnt bereits in der Kindheit seines (Anti-)-Helden. Wir sehen ihn als verbissenen Schüler an der Militärschule in Brienne, wo sich der kleine Napoleon bei einer Schneeballschlacht als genialer Stratege entpuppt. Schon diese temporeiche Szene hat mehr psychologische Tiefe als die erste Stunde von Scotts Film. Eigentlich hatte Gance geplant, Napoleons Leben in sechs Filmen zu erzählen, was aufgrund der hohen Kosten des ersten Films schnell verworfen wurde. Die Zeit, die dieser Napoleon zeigt, reicht also "nur" bis zum Italien-Feldzug. Abel Gance hatte trotzdem Angst, das Publikum werde enttäuscht sein, weil es natürlich Waterloo am Ende erwartete. Diese Zweifel von Abel Gance führten jedoch zum hirnsprengenden Triptychon, für das man im Kino drei Projektoren brauchte. Nach der Galavorführung in der Pariser Oper 1927 fragte niemand mehr nach Waterloo. Ich kann mir vorstellen, dass vielen der Unterkiefer runterklappte, als das Bild auf einmal ganz klein wurde, dann ein Trommelwirbel ertönte und sich schließlich das Panorama-Triptychon öffnete, um die volle Schlagkraft der französischen Armee zu zeigen.
Der junge Napoleon leitet seine erste (Schneeball-) Schlacht. © 1983 THE IMAGES FILM ARCHIVE INC.
Trotzdem war Abel Gances meisterhafter Film damals nicht das alles erobernde Spektakel, das er in einer fairen Welt hätte sein müssen. Nach der Premiere wurde Napoleon nur in acht europäischen Städten gezeigt, bevor Metro-Goldwyn-Mayer die Filmrechte aufkaufte und ihn nach der letzten kompletten Aufführung in London für den US-Markt stark einkürzte. Dort wurde er jedoch kaum beachtet, weil der Siegeszug des Tonfilms gerade seinen Anfang nahm.
Die Wiederentdeckung und nachträgliche Würdigung von Kritiker:innen und Cineast:innen ist vor allem dem britischen Filmhistoriker, -sammler, Autor, Regisseur und Filmeditor Kevin Brownlow zu verdanken. Seine Restauration, die 1980 vollendet wurde, lief in zahlreichen Kinos, begleitet von der Musik von Carmine Coppola. Der Filme wurde in den Jahren darauf noch weiter restauriert, diesmal mit der Musik von Carl Davis. Diese Version, die Sie bei ARTHAUS+ schauen können, enthält auch das Material, das später von der Cinémathèque Française in Paris wiederentdeckt wurde.
In einem Gastbeitrag für den Guardian schrieb Kevin Brownlow im Jahr 2013, wie Napoleon zu seiner privaten Passion wurde. Das war schon im Jahr 1953, als sich der junge Schüler Kevin immer in der Bibliothek Filme für seinen 9,5mm-Projektor auslieh. So viele gab es davon nicht, also ließ er sich diesen Film über die Französische Revolution und Napoleon aufschwatzen und erwartete einen eher statischen Schulfilm, den man im Geschichtsunterricht zeigen könnte, wo dann die Hälfte der Klasse weggepennt wäre. Falscher hätte Brownlow mit dieser Vermutung nicht liegen können. Er schreibt: "So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich dachte: Das ist exakt das, was Kino sein sollte! Mir wurde klar, dass ich nur zwei Rollen einer Version mit sechs Rollen besaß, die für den Heimkinobereich herausgegeben wurde. Also fing ich an, in ‚Exchange und Mart‘ zu inserieren, bis ich den Rest des Films zusammen hatte. Und dann kamen die Leute zu mir, um den Film zu sehen. Ich schrieb einen Brief an den Regisseur, Abel Gance, an die Cinémathèque Française in Paris, weil ich nicht glauben konnte, was ich gesehen hatte. Er hat ihn beantwortet – was sehr, sehr ungewöhnlich war. Und dann kam er eines Tages einfach ins British Film Institute. James Quinn, der dort zuständig war, wusste von meinem Interesse und rief meine Mutter an. Sie rief meine Schule an. Ich steckte mitten in einer Prüfung, aber sie ließen mich zu ihm gehen. Einige Regisseure waren in der Stummfilmzeit brillant, fühlten sich aber im Tonbereich nie zu Hause. Das ist wie bei einem Bildhauer, der gezwungen ist, mit der Malerei anzufangen. Ich erinnere mich, dass Gance sagte, er habe das Gefühl, er habe alle seine Tonfilme mit geschlossenen Augen gemacht. Er war so freundlich, so überrascht, diesen kleinen Jungen zu finden, der von seiner Arbeit besessen war. Ich glaube wir haben in diesem Gespräch beide für eine Weile alles um uns herum vergessen." Eine wundervolle Szene – die sich auch gut in einem Film machen würde.
Napoleon neben seiner Gattin Joséphine de Beauharnais und ihrer Tochter. © 1983 THE IMAGES FILM ARCHIVE INC.
Ich hoffe, ich konnte Sie mit diesem Text überzeugen, dass der alte Napoleon der "bessere" ist. Da ich aber das Kino liebe und ungern zum nörgeligen Filmkritiker mutieren möchte, würde ich Ihnen am Ende doch lieber NICHT davon abraten, Ridley Scotts Napoleon im Kino zu sehen. Vielleicht werden Sie ja nicht persönlich enttäuscht, und selbst wenn, haben Sie immer noch sehr spektakuläre Kriegs-Taktiken und -Szenen gesehen. Machen Sie also lieber wie ich einen Napoleon-Thementag: Schauen Sie nachmittags Ridley Scott, abends auf einem großen Fernseher Abel Gance – und lesen Sie dann zum Einschlafen vielleicht noch die ersten Seiten von Jeanette Wintersons "Verlangen". Dieser fantastische und mit 160 Seiten recht kurze Roman erzählt nämlich ebenfalls aus der Zeit des Napoleon Bonapartes – und schafft es noch ein wenig besser zu erläutern, wie es eigentlich sein konnte, dass all die jungen Menschen für diesen Mann in den Krieg und in den Tod ziehen wollten.
Hier können Sie Napoleon von Abel Gance auf ARTHAUS+ bei Amazon sehen – und hier auf unserem ARTHAUS+-Channel bei Apple TV.
DK