Kôji Yakusho ist einer der bekanntesten Schauspieler Japans. Gerade erst gewann er den Preis für den besten Darsteller im neuen Film von Wim Wenders: Perfect Days. Kôji Yakusho sagt über den deutschen Regisseur: "Wim Wenders ist ein Deutscher, aber er versteht Japan so gut, dass ich den Eindruck habe, er muss in einem früheren Leben Japaner gewesen sein. Er ist jemand, der ein tiefes Verständnis für die japanische Kultur hat, und wenn man sich seine Musikauswahl ansieht, ist die Mischung der beiden Kulturen perfekt." Diese Worte haben natürlich Gewicht, wenn sie von einem Mann wie Kôji Yakusho kommen.
Wim Wenders Faszination für das Leben in Japan rührt auch und vor allem von seiner Liebe zu den Filmen des Regisseurs Yasujirō Ozu. Sie war es, die Wenders im Frühjahr 1983 nach Tokio aufbrechen ließ. Dort begab er sich auf die Spuren Ozus. Er versuchte, den Resten des Japans, das Ozu ihm gezeigt hatte, nachzuspüren. In einem Land, das gerade eine rasende Entwicklung durchmachte. Aus dieser Reise entstand die Dokumentation Tokyo-Ga, die Wenders selbst als eine Art filmisches Tagebuch bezeichnet – oder, in Anlehnung an den berühmtesten Film Ozus, als seine Reise nach Tokyo.
Für seinen Film trifft Wenders auch Ozus langjährigen Kameramann Yuharu Atsuta (1905–1993) und Ozus Stammschauspieler Chishū Ryū (1904–1993), die ihm von ihrer Arbeit mit Yasujirō Ozu berichten. Dennoch sind es eher die eigenen Gedanken und Bilder, die Wenders mit uns teilt, die Tokyo-Ga besonders machen. Immer wieder schwelgt Wenders in von ihm gefilmten Bildern der Stadt und lässt uns in langen Monologen an seinen Gedanken über Osus Werk teilhaben. Während die U-Bahnen unablässig durch die Nacht rasseln, sagt Wenders zum Beispiel aus dem Off: "Wenn es in unserem Jahrhundert noch Heiligtümer geben würde… wenn es so etwas gäbe wie einen heiligen Schatz des Kinos, dann wäre das für mich das Werk des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu. Er machte 54 Filme. Stummfilme in den 1920ern, schwarz-weiß Filme in den 1930ern und 1940ern und schließlich Farbfilme bis zu seinem Tod, am 12. Dezember 1963, an seinem 60. Geburtstag.”
Das Werk Ozus bringt Wenders in solchen Passagen erstaunlich konzentriert auf den Punkt. Etwas, das auch Ozus Filme konnten. Wenders erklärt: "Ozus Filme erzählen mit äußerster Sparsamkeit der Mittel und auf das Allernotwendigste reduziert, immer wieder dieselben einfachen Geschichten. Von immer wieder denselben Menschen in derselben Stadt. Tokio. Diese Chronik von annähernd 40 Jahren zeichnet die Veränderung des Lebens in Japan auf. Ozus Filme handeln von einem langsamen Verfall der japanischen Familie und damit vom Verfall einer nationalen Identität, aber nicht indem sie mit Entsetzen auf das neue westliche oder amerikanische deuten, sondern, in dem sie mit einer distanzierten Wehmut den gleichzeitig stattfindenden Verlust beklagen. So japanisch diese Filme auch sind, so allgemeingültig sind sie zur gleichen Zeit. Ich habe darin alle Familien in aller Welt wiedererkennen können, auch meine Eltern, meinen Bruder und mich."
Für seine Dokumentation, die erst 1985 fertig wurde, nachdem er Paris, Texas geschnitten hatte, filmte Wim Wenders viele Stunden aus dem Stadtleben in Tokio. Fast hat man das Gefühl, auch er wolle vor allem das zeigen, was Wenders im Kino Ozus sah: das Leben, wie es wirklich ist. In einer Passage von Tokyo-Ga heißt es: "Ein jeder sieht für sich selbst das Leben. Man hat sich so an diese Kluft gewöhnt und hält es für so selbstverständlich, dass das Kino und das Leben so weiter auseinander liegen, das einem der Atem stockt und man zusammenzuckt, wenn man auf einer Leinwand plötzlich etwas Wahres oder Wirkliches entdeckt. […] Es ist selten geworden im heutigen Kino, das solche Augenblicke der Wahrheit stattfinden. Das Menschen oder Dinge sich so zeigen, wie sie sind. Das war das Ungeheuerliche an den Filmen von Ozu – und vor allem an seinen späten. Sie waren solche Augenblicke des Lebens, nein nicht nur Augenblicke, sie waren langstreckte Wahrheiten, die vom ersten bis zum letzten Bild andauerten. Filme, die tatsächlich und dauernd vom Leben selbst handelten und in denen sich die Menschen selbst, die Dinge selbst, die Städte und die Landschaften selbst, offenbarten."
In Tokyo-Ga offenbart sich dieses "Wahre" und "Wirkliche" in der neugierigen Dokumentation spezieller Kapitel des Alltagslebens in Tokio. Wenders verbringt zum Beispiel einen Tag mit den Männern, die Restaurantspeisen als Wachsreplikate herstellen, die dann wiederum in den Restaurants in der Auslage gezeigt werden. Er beobachtet das stoische, entweder friedliche oder traurige Glückspiel in den Pachinko-Sallons. Er filmt junge Japaner*innen, die sich Anfang der 80er als Amerikaner:innen der 60er verkleiden und im Park zu Songs von Elvis Presley und den Beach Boys tanzen. Er filmt, spürbar amüsiert, wie das Golfspielen in Tokio auf engstem Raum zelebriert wird – und dabei das eigentliche Ziel des Spiels, nämlich einen Ball einzulochen, abhandenkommt.
Wer eine exakte Dokumentation über das Leben und Werk von Yasujirō Ozu sehen will, ist bei Tokyo-Ga zwar an der falschen Adresse. Wer aber mitten ins Leben im Tokio der 80er-Jahre springen will, um dabei den wehmütigen Überlegungen eines großen deutschen Regisseurs zu lauschen, der einen großen japanischen Regisseur verehrt, wird diesen Film lieben. Er ist beseelt von einer meditativen Stimmung, einer Lieber zur Wahrhaftigkeit des Kinos und einer Empathie für die Tätigkeiten der Menschen – die auch Wenders aktuellen Film Perfect Days erfüllt.
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DK