Ähnlich wie die "Red Pill" aus Die Matrix hat John Carpenters trashig-brillante Abrechnung mit den Reaganomics aus dem Jahr 1988 viele Fans gefunden, die sich die entsprechenden Regisseur:innen nicht gewünscht haben: Sie leben wird immer wieder von rechten Verschwörungstheoretikern aufgegriffen, die seine Dystopie mit rassistischen und antisemitischen Tönen vermischen. Das ist besonders tragisch, weil Carpenter eben eine eher linke, kapitalismuskritische Dystopie im Sinn hatte (wie wir in diesem Artikel erklären). In seiner Welt sind die feindlichen Aliens längst unter uns und arbeiten mit durchtriebenen Geschäftsleuten und Werber:innen zusammen, die die Menschheit in den blinden Gehorsam hypnotisieren wollen. "OBEY" heißt die Devise, die unter fast jeder Werbung dieser Welt lauert.
Die erste Serie von Dogma-Regisseur Thomas Vinterberg werden wir demnächst auf unserer Website noch einmal genauer vorstellen. Das dystopische Szenario in Families Like Ours macht uns besonders nervös, weil die Anfänge davon längst Tatsache sind. Vinterbergs Prämisse für die nahe Zukunft: Der Meeresspiegel steigt dermaßen an, dass Dänemark evakuiert werden muss. Damit werden auf einmal die Bürger:innen eines Landes zu Geflüchteten, das in den letzten Jahren eine besonders harte Grenzpolitik fuhr – und das nun zu spüren bekommt. Vinterbergs mal melancholische, mal emotional brutale Serie kriecht einem direkt unter die Haut, vielleicht auch, weil gerade in Ländern wie Amerika oder bei uns in Deutschland Politker:innen an der Macht sind, die den Klimawandel nicht als größte Herausforderung der nahen Zukunft sondern als pain in the ass von einigen jungen Ökos sehen.
Schon Jean-Luc Godard trieb 1965 die Angst um, von einem Computer regiert zu werden. In Alphaville sehen wir an der Seite des "Agenten der Außenwelt" Lemmy Caution, wie das aussehen könnte: In der Stadt Alphaville regiert der Supercomputer α-60 – und plant ganz nebenbei einen Angriffskrieg auf den Rest der Welt, in dem die Menschen noch das Sagen haben. α-60 setzt auf totalitäre Methoden und hat seinen Bürger:innen die Emotionen größtenteils ausgetrieben. Für ihn gilt nur das Gesetz der Logik – und damit die Menschen aus Alphaville das auch kapieren, gibt es in jedem Raum eine "Bibel" mit den Worten, die sie benutzen dürfen. Diese wird jeden Tag aktualisiert – und wer andere Vokabeln verwendet, muss mit harten Strafen oder gar dem Tod rechnen.
Während die anderen Beispiele ihre dystopischen Szenarien recht genau ausbuchstabieren, lässt uns die starke französische Mini-Serie The Collapse im Ungewissen darüber, was genau der Auslöser für das Aufbrechen der gesellschaftlichen Ordnung ist. Was aber, wenn man es recht überlegt, vielleicht auch die realistischere Variante ist. Wer weiß denn schon, ob noch alle Kommunikationswege funktionieren, wenn die Gesellschaft erst einmal zusammenbricht, oder ob es wirklich den einen Grund für den Ausnahmezustand gibt und nicht einen wirren Wirbel aus dutzenden dramatischen Entwicklungen. Dafür zeigt das Filmkollektiv Les Parasites (das wir übrigens damals hier zur Serie interviewt haben) in sehr nahen Beispielen, wie es ablaufen könnte, wenn der blanke Überlebenswille übernimmt und sich jede:r selbst der oder die nächste ist. Vor allem die Folge, die in einem Altenheim spielt, ist ebenso krass wie gelungen: Dort kümmert sich der letzte gewissenhafte Pfleger Marco noch immer um seine Patienten – und wird schließlich von seinen Kollegin:nnen ausgeraubt, die seine Medikamente und die Essenvorräte lieber für ihre weitaus jüngere Gruppe an Überlebenden braucht.
Unsere letzte Dystopie gibt’s sozusagen for free – bzw. für den monatlichen Rundfunkbeitrag. Das ist natürlich ein wenig polemisch, aber wir müssen schon zugeben, dass die täglichen Nachrichten bisweilen recht dystopisch wirken. Da erfahren wir zum Beispiel, dass Donald Trump den Gaza-Streifen räumen und in Hotelparadies umwandeln will und seine Regierung angehalten hat, Worte wie "climate crisis", "clean energy" oder sogar "sense of belonging" nicht mehr zu benutzen. Gleichzeitig lernen wir, dass die neue chinesische KI Deepseek kürzlich ein Gedicht geschrieben hat, das mit diesen Worten endet: "I am what happens when you try to carve God from the wood of your own hunger." Ganz ehrlich: Das hätten sich ein John Carpenter, ein Jean-Luc Godard oder ein Thomas Vinterberg auch nicht besser ausdenken können.
Sozusagen aus den zuletzt genannten aktuellen Anlässen beschäftigen wir uns bei ARTHAUS gerade ein wenig mehr als sonst mit dem Thema Dystopien. Hier finden Sie unsere Letterboxd-Liste zum Thema und hier gibt’s einen Artikel über "Die Tribute von Panem: Das Spektakel der Dystopie."
DK