Es gibt viele unglaubliche Geschichten über die Entstehung von Paris, Texas. Illegale Dreharbeiten, erpresserische Gewerkschaftsvertreter, ein verrücktspielender Dollarkurs, der fast ein Drittel des Budgets verbrannte und ein finanzielles Fotofinish, über das Wim Wenders später sagte: "Am letzten Tag waren alle meine Kreditkarten gesperrt, die uns noch über die Zielgerade gerettet hatten."
Die schönste dieser Geschichten ist jedoch der chaotische und innige Arbeitsprozess, in dem die damals befreundeten Wim Wenders und Sam Shepard parallel zu den Dreharbeiten Nacht für Nacht miteinander telefonierten, um die zweite Hälfte des Drehbuchs von Paris, Texas zu vollenden. Denn besagtes Drehbuch war ihnen auf halber Strecke ausgegangen. Und während für viele andere so ein Roadmovie ohne Sprit vielleicht das Ende der Reise gewesen wäre, entstanden bei Sam Shepard und Wim Wenders mit Hilfe seiner Assistentin Claire Denis (Ja, DIE Claire Denis) einige der eindringlichsten Szenen der Filmgeschichte. Man denke nur an die Begegnungen von Travis (Harry Dean Stanton) und Jane (Nastassja Kinski) im Peep-Show-Studio und an die ergreifenden Dialoge zwischen den beiden, die – wie man inzwischen weiß – von Shepard nachts per Telefon übermittelt wurden, weil der ein halbes Amerika entfernt in den Dreharbeiten zum Film Country verstrickt war.
Im sehr berührenden Nachruf auf seinen verstorbenen Freund Sam Shepard schrieb Wenders im August 2017 in der Zeit darüber, wie er ihm zum ersten Mal begegnete. "Sam Shepard stand im City Lights Bookstore auf der Columbus Avenue in San Francisco, als ich ihn zum ersten Mal sah. Das war im Sommer 1978. Sam war hochgewachsen, hager und hatte den aufmerksamen Blick eines Falken. Ich stand da mit einem Buch von ihm in der Hand, 'Hawk Moon' ...".
Wim Wenders schätzte Shepard schon damals für seine Theaterstücke und Texte und sprach ihn direkt an. "Wir fingen an, miteinander zu reden, eins führte zum anderen, und bald saß ich in einer der hinteren Reihen des Magic Theatre, im Marina District, wo gerade die Proben zu 'Buried Child' liefen", erzählt Wenders. "Sam gab mir ein Manuskript, sodass ich dem Stück folgen konnte, aber schon bald merkte ich, dass ihm nicht so daran gelegen war, dass die Schauspieler dem folgten, was er da geschrieben hatte. Er wollte oft Alternativen hören oder machte selbst Vorschläge, und als ich schließlich das fertige Stück sah, war von dem ursprünglichen Text wenig übrig geblieben. Sam hatte ein unglaubliches Gespür für glaubwürdige Dialoge. Nicht seine Sätze waren ihm wichtig, sondern die Ehrlichkeit seiner Figuren. Und er wusste, wovon er sprach. Er schien jeden seiner Charaktere auf dem Grund seiner Seele zu kennen."
Man kann sicher schon hier erkennen, warum Wenders Shepard nicht nur für seine Kunst, sondern auch für seine Arbeitsweise schätzte. Da sie auch zwischenmenschlich funktionierten, beschlossen sie bald gemeinsame Sache zu machen. Nachdem es bei Wenders' Hammett aus diversen Gründen und Vorbehalten der Produzenten nicht klappte, verblieb man mit dem Vorsatz, es wieder zu probieren, "wenn uns niemand würde reinreden können", so Wenders weiter. Und erneut ging er mit einem Buch von ihm in der Hand auf Shepard zu: "Motel Chronicles".
Paris, Texas. Wim Wenders 1983/84 © (c) Wim Wenders Stiftung
Wenders schrieb in einem Text zum Blu-ray-Release von Paris, Texas bei ARTHAUS: "Das erste Buch hatte ich alleine geschrieben, auf einer Sammlung von Kurzgeschichten und Gedichten beruhend, die Sam gerade herausgebracht hatte, 'Motel Chronicles'. Aber weder Sam noch ich fanden besonderen Gefallen an dem Resultat. Das Ganze hatte keinen rechten Zusammenhalt, und Shepard empfahl schließlich, dass wir beide besser von vorne anfangen und uns gemeinsam eine Geschichte ausdenken sollten. Wofür wir uns dann auch ausgiebig Zeit nahmen. Über mehrere Monate und an vielen Orten entstand so allmählich die Story von Travis, einem anscheinend taubstummen Mann, der da in der texanischen Wüste über die mexikanische Grenze kommt und auf ein unsichtbares Ziel zusteuert."
In seinem Nachruf erzählte Wenders, Shepard habe damals gerufen "We can do better!" Und habe vorgeschlagen, es gemeinsam "from scratch" anzugehen. "Wir haben uns erst mal tagelang nur gegenseitig Geschichten erzählt, um überhaupt herauszufinden, was unser gemeinsames Territorium sein könnte", erinnert sich Wenders. "Dann haben wir es im amerikanischen Westen gefunden, dazu die Rolle eines Mannes, dem es die Sprache verschlagen hatte."
Wenders erinnert sich an den guten Start, der sie allerdings nur bis zur Halbzeit zu tragen vermochte. "Jedenfalls haben Sam und ich schließlich die tolle erste Hälfte eines Drehbuchs auf Papier gebracht, und waren damit auch ganz zufrieden. Der geniale Plan war, damit den Film anzufangen, und die zweite Hälfte langsam dazu wachsen zu lassen. Sam würde mitreisen, die Schauspieler kennenlernen, und so wären wir dann in der Lage, auf alles zu reagieren, was uns und den Akteuren so geschehen würde, und könnten somit das perfekte Ende des Buches unterwegs weiterdichten."
Als sich dann jedoch der Drehstart immer wieder verschob und es erst im Spätsommer 1983 so richtig losgehen konnte, war Shepard schon wieder als Schauspieler im Norden der Vereinigten Staaten verpflichtet. "Ich fing also in der sengenden Hitze des Big Bend in Texas mit der Produktion an, während Sam schon mit den ersten Schneestürmen zu kämpfen hatte", so Wenders. Und, klar: "Ich hatte nur ein halbes Drehbuch."
Nun kann man ruhigen Gewissens behaupten, dass Paris, Texas auch in seiner ersten Hälfte schon ein verdammt toller Film geworden ist. Der charismatische, auch stumm wahnsinnig ausdrucksstarke Stanton, das von der ersten Szene mit ihr erstrahlende Spiel der Nastassja Kinski, die nicht minder leuchtenden Farben des Kameramanns Robby Müller, der perfekte Filmscore von Gitarrist Ry Cooder – all das lässt einen schon von Anfang an spüren, dass man hier Kinogeschichte erlebt. Dennoch sind es eben vor allem die langen, suchenden, schüchternen, verstörenden Gespräche in der zweiten Filmhälfte, die Paris, Texas in andere Sphären heben. Und die entstanden sozusagen in Echtzeit, desnachts, parallel zu den Dreharbeiten.
"Wir hatten eine lange Kreativpause mittendrin, als uns nämlich das Drehbuch ausging", erinnert sich Wenders. "Sam wusste auch nicht weiter und musste an dem anderen Film, Country ohnehin auch viel umschreiben. Also habe ich mir die zweite Hälfte des Films in schlaflosen Nächten aus den Fingern gesogen und Sam als Eilbrief geschickt (das war in den Tagen VOR Erfindung der Fax-Maschine) und Sam hat mir dann von Nacht für Nacht seine Dialoge durchtelefoniert, die ich dann mit Claire Denis irgendwie bis zum Morgen zu Papier gebracht habe, so dass wir immer von einem Tag zum anderen weiterdrehen konnten."
Es sind wohl vor allem diese intimen, wundersamen, kreativen Momente, die Wim Wenders und Sam Shepard so innig verbunden haben. Im Nachruf in der Zeit, liest man dann auch die Wehmut und die Traurigkeit heraus, als Wenders, fast wie in einem Shepard-Text, sein letzten Gespräch mit ihm beschreibt. "Am Telefon war er ungebrochen optimistisch, auch wenn er um den schleichenden Verlauf seiner Krankheit wusste. Und auch wenn sein Atem schleppend ging, kam sein leicht schepperndes, trockenes hohes Lachen wie immer. 'Vamos a ver!', sagte er zuletzt." – "Mal sehen!"
DK